Ich habe keine Freunde mehr, ich habe nur noch Komplizen. – Albert Camus, Der Fall
A winter‘s day
In a deep and dark December
I am alone
Gazing from my window to the streets below
On a freshly fallen silent shroud of snow
I am a rock I am an island
I‘ve built walls
A fortress deep and mighty
That none may penetrate
I have no need of friendship, friendship causes pain
It‘s laughter and it‘s loving I disdain
I am a rock I am an island
Don‘t talk of love
Well I‘ve heard the word before
It‘s sleeping in my memory
I won‘t disturb the slumber of feelings that have died
If I never loved I never would have cried
I am a rock I am an island
I have my books
And my poetry to protect me
I am shielded in my armor
Hiding in my room safe within my womb
I touch no one and no one touches me
I am a rock I am an island
And a rock feels no pain
And an island never cries
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Manche Lieder finden Sascha, ohne dass sie danach gesucht hätte. Das gilt auch für diese zitierten Zeilen des Liedes „I am a rock“ des amerikanischen Bardenduos Simon & Garfunkel aus dem Jahr 1966, einer Ode an die Einsamkeit. Das Lied ist in verschiedenen Versionen auf YouTube zu hören; der triste melancholische Text steht dabei in auffälligem Kontrast zur eingängigen, fast fröhlichen Melodie, von Art Garfunkel mit seiner verführerisch hohen Stimme gesungen. Der Komponist und Texter Paul Simon klampft mit seinen Rehaugen passend traurig zu den Versen.
Sascha fühlt sich mit diesem Lied durchschaut. Sie findet es tröstlich, dass ihr solitäres Leben bereits ein Jahr nach ihrer Geburt Einzug hielt in die populäre Kultur, stellvertretend durch dieses Lied. In den Metaphern des Felsens und der Insel, die als Refrain zwischen den Strophen wiederholt werden, werden die Ungreifbarkeit und die Abgeschiedenheit des Lebens, das sie führt, aufgehoben. Das nicht näher präzisierte lyrische Ich im Text erzählt von seiner Einsamkeit, ohne zu erwähnen, ob sie das Ergebnis einer Wahl ist oder schlicht Schicksal. Vermutlich ist das auch egal, das Gewicht der Einsamkeit wird durch die Antwort nicht beeinflusst.
Wenn Sascha sich in ihrer Wohnung umschaut, springt es ihr ins Auge, dass sie nicht für Besuche eingerichtet ist. Am Küchentisch steht ein Drehhocker, auf dem sie morgens die Nachrichten via Radio hört, während sie ihren Grünen Tee trinkt; im großen Zimmer steht ein exzellenter Bürostuhl am Schreibtisch, weitere Sitzgelegenheiten gibt es nicht. Alle Wände ihres Arbeitszimmers werden von Regalen eingenommen, in denen Bücher teils chronologisch, teils alphabetisch, teils thematisch sortiert sind; Sascha findet sich in diesem Meer an bedrucktem Papier zurecht, weil sie es peu à peu aufgewellt hat. Für fremde Blicke ist diese Bibliothek nicht gedacht, erst recht nicht zum Verleihen der Bücher, Sascha würde ja auch nicht ihre Haut einer anderen zum Tragen anbieten.
Ihr Schreibtisch ist eine Zone des Schweigens und der Unbelebtheit. Neben dem Telefon und dem Rechner stehen dort in einer Tasse verschiedene Stifte, daneben liegen die obligaten Notizblöcke. Regelmäßig greift sie nach dem Stundenglas, um dieses umzudrehen und dem Rieseln des Sandes nachzusinnen; daneben steht eine analoge Schachuhr der legendären Marke Garde, die noch bei den WM-Kämpfen zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow in den 1980er Jahren zum Einsatz kam. Neben dem Schreibtisch steht ein Nachtschränkchen aus dem Fundus ihrer Großmutter, auf dessen marmorner Platte ein Schachbrett in Turnierqualität ruht. Hier spielt Sascha Großmeisterpartien nach oder stellt eine Problemposition auf; wenn sie über der Lösung grübelt, spricht sie gelegentlich mit den Figuren und meint, deren Antworten zu verstehen.
Der Großteil ihrer Kommunikation findet im Internet auf Plattformen zum Schachspielen statt. Dort spielt sie routiniert gegen Gegner, über die sie nichts weiß und auch nichts weiter wissen möchte. Beim Schach werden Affekte gekitzelt, die ihr die Illusion der Beteiligung am sozialen Leben geben; wenn die Partie mit der Aufgabe endet, schwindet auch ihre emotionale Involviertheit. Vollends bei sich ist sie, wenn sie mit einem Buch zur Endspieltechnik am Brett sitzt und sich einprägt, wann der Springer dem Läufer überlegen ist, wie ein Turmendspiel mit einem Minusbauern Remis zu halten ist, wie eine Festung bei materiellem Nachteil aufzubauen ist und wann die Zeit gekommen ist, auch die letzte Figur zu tauschen für das mutmaßlich gewonnene Bauernendspiel. Sie hat sich zum Advent selbst beschenkt mit einer offiziellen FIDE-Uhr mit digitaler Zeitmessung – absurd, wo sie doch niemals gegen einen anwesenden Gegner spielen wird. Das Symbol siegt hier über die Realität.
Sascha weiß, dass es ihre offen sichtliche Behinderung ist, die sie in der Einsamkeit einfriert. Dieses Los hat sie resigniert akzeptiert, auch wenn es ab und an zu peinlichen Verwirrungen dergestalt kommt, wenn sie sich offen für Begegnungen zeigen will, die dann doch nie geschehen. Ihr Traum vom Glück ist die Bedürfnislosigkeit; wenn sie keine Ansprüche an wen auch immer erhebt, können diese auch nicht enttäuscht werden. Sie ist der glatt hingegossene See, nicht die tosende Flut und nicht der anschwellende Strom; sie ist der zähe Nebel, nicht der klare Regen. Sie ist mit den Jahrzehnten so sehr versteinert, dass sie, ganz im Sinne Paul Simons, keinen Schmerz mehr verspürt und nicht mehr weint. Einzelne Einbrüche an Sentimentalität, wenn sie etwa Küsse oder Umarmungen in Filmen sieht, bestätigen nur ihre gefühlsmäßige Wüste. In der katholischen Messe gibt sie sich der Vorspiegelung hin, es gebe tatsächlich einen Gott, der sie liebe. Die Liturgie versüßt ihr das Wochenende ohne Ereignisse.
Dabei ist die dunkle Jahreszeit von Mitte November bis Ende Februar genau ihre Zeit. Das Leben spielt sich weitgehend in Innenräumen ab, vor allem sind die jungen, hübschen, attraktiven Menschen eingemummelt in ihre dicke Winterkleidung im Schlafsackdesign, die die Silhouetten ihrer unerreichbaren Leiber verschluckt. Welch eine Qual à la Tantalos, wenn ab Mitte April die Straßencafés wieder voll besetzt sind und die schönen Menschen den Nonvaleurs demonstrieren, was sie nie erlangen werden. Im Advent ist es viel einfacher als zu Ostern, den Triathlon der Entsagung mit seinen Disziplinen des Phantasierens, Kompensierens und Sublimierens bis zur Ziellinie zu bestreiten. Hier ist Sascha in einem Dauertraining, dessen Früchte zu ernten vom gleißenden Sonnenlicht erschwert wird. Die Hymne des „Adeste Fideles“ singt sie zu Weihnachten für sich allein.
Als Gnade des Alters erlebt es Sascha, zunehmend zu verschwinden. Sie wird in der Öffentlichkeit schlicht übersehen, niemand kommt auf den Gedanken, sie anzusprechen oder gar einzuladen zu einem Besuch der Oper oder auch nur zu einer Tasse Kaffee. Und selbstredend vermeidet sie es, sich anderen Menschen anzubieten, erst recht jenen, die sie mit einem hoffnungslosen Hunger betrachtet. Zu offensichtlich wäre deren Erstaunen, von einer Unberührbaren angegangen zu werden. Eine Glasscheibe trennt sie von den Lebenden, die sie ob ihrer unfreiwilligen Tarnung gar nicht wahrnehmen als Vertreterin ihrer Spezies. Ein Lachen, das an jemand anderen gerichtet ist, dringt nur als gedämpfter Klang an ihr Ohr. In eine neue Garderobe zu investieren wäre überflüssig, da kein Mann sie als körperlich interessant wahrnimmt. Für sie selbst reichen die ewigen 501 Jeans in blau und schwarz.
In ihrem Refugium fühlt sich Sascha sicher, in ihrer Wohnung droht ihr kein Ungemach. Sie kann allerdings nächtelang nicht schlafen, wenn etwa ein von der Hausverwaltung beauftragter Techniker Zutritt in ihre Räume begehrt. Die Ruhe und die Ungestörtheit sind unabdingbare Bedingungen dafür, dass Sascha an ihrer Einsamkeit nicht verzweifelt, sondern sie als ihr natürliches Habitat begrüßt. Die Bienenwachskerze auf ihrer Schminkkommode verströmt einen warmen Glanz und einen leisen Duft, eine Referenz an die Vorweihnachtszeit, noch so ein Schrecken mit dem Zirkus rund um die Familie. Wenn Sascha früh ins Bett geht und sich unter ihrer Daunendecke zum Embryo einrollt, spürt sie die weiche Haut ihrer ineinandergelegten Hände und lauscht den eigenen ruhiger werdenden Atemzügen. Hoffentlich ist es im Grab genauso friedlich, denkt sie noch, bevor sie in den segensreichen Schlaf fällt.