Solo

  Should auld acquaintance be forgot and never brought to mind? – Auld lang syne, schottische Volksweise

Nach der Vesper saßen sie zusammen im Gästehaus der Abteikirche, das Abendbrot einnehmend. Der Gesang der Mönche zum Abendlob war für Kerstin der Höhepunkt eines jeden Tages, die Stimmen wurden behutsam von der Orgel getragen und bis unters Dach der Kirche gehoben, wo sie sich in Dunst und Atem auflösten und sich auf den Mauersteinen ablagerten. Im Lauf der Jahrzehnte hatte sich dergestalt eine Sedimentschicht oberhalb des Chorgestühls gebildet, wie es auch in jedem Konzertsaal und Opernhaus mit der Zeit geschieht. Nachdem der letzte Ton verklungen war und schließlich ausschwang, hallten die Quader noch minimal nach. All die Noten lagen auf dem Putz des Gemäuers wie ein akustischer Anstrich, als Vorgriff auf die Ewigkeit.

Den Anwesenden am Abendbrottisch ging es wie Kerstin, sie waren verzückt und beseelt vom gregorianischen Gesang der Mönche, den sie ebenso religiös wie ästhetisch aufnahmen. Die Gemeinschaft der Mönche klang wie eine einzelne Stimme, dabei blieb jede einzelne für das geübte Ohr identifizierbar. Einer der Tischnachbarn fing an, von seinen eigenen Chorgesängen zu berichten. Er war vor langer Zeit einem Bergmannschor im Ruhrgebiet beigetreten, der mit den Jahren immer schütterer wurde; die Sänger starben weg, ohne dass ausreichend frische Stimmen nachrückten. An Kerstin gewandt, fragte er, ob sie nicht auch Lust hätte, in einem Chor zu singen? Sie habe ja eine so schön volle Altstimme, die sich in einem Chor bestimmt gut machen würde.

Touché, dachte Kerstin. Sie hatte durchaus Freude am Singen und genoss die eigene Stimme, wenn sie sie allein zum Lied erhob, beim Spazierengehen etwa oder auf dem Fahrrad. Aber in einem Chor zu singen, war dann doch zu viel für sie. Zum einen wollte sie sich der Aufnahmeprüfung, die mittlerweile jeder Amateurgesangverein einer Bibliothek verpflichtend für Neumitglieder macht, nicht stellen; zu groß war ihre Scheu, vor zahlreichen Unbekannten im Mittelpunkt zu stehen. Zum anderen waren die schüchternen Versuche, die sie auf dem Weg dahin unternommen hatte, zu ernüchternd gewesen, als dass sie an einer Wiederholung interessiert wäre. Mochte ihre Stimme auch von Unbeteiligten als voll und wohlklingend empfunden werden, sie selbst wusste, dass sie nie die Lage erreichen würde, die ihr angemessen schien.

Beim Sprechen, vor allem wenn sie dabei anderen ansichtig wurde und ihre Mimik mitspielte, lag ihre Stimme auf der Höhe des Alt. Beim Singen aber konnte sie diese Gefilde nicht erklimmen, sie blieb in den Niederungen des Tenors stecken, wie es eine Freundin anlässlich eines gemeinsamen Messebesuchs einmal bemerkte. Anatomisch kein Wunder, hatten sich doch unter dem verderblichen Einfluss des Testosteron Kehlkopf und Stimmbänder dergestalt vergrößert, dass ihre Stimme dauerhaft ein Register tiefer gerutscht war, eine Entwicklung, die auch unter langjährigen Östrogengaben nicht rückgängig zu machen war. Sopran, Mezzo und Alt waren unter diesen Umständen nicht erreichbar, alles andere wollte sie sich nicht zumuten.

Eine Freundin, mit der sie die Faszination für die Gemälde Caravaggios teilte und mit der sie einst eine Wallfahrt nach Rom zu den Museen, Kirchen und Galerien, die die Werke des Barockmalers bargen, unternahm, meinte einmal scherzhaft, unter Zugrundelegung der Theorie der Wiedergeburt Rudolf Steiners, vermutlich sei sie vor 400 Jahren ein Kastrat gewesen und seinerzeit von Caravaggio portraitiert worden. Bis in die Zeit des I. Vatikanum wurden präpubertierende Jungen mit einem glockenhellen Knabensopran kastriert, um ihre Stimme für den päpstlichen Chor zu erhalten. Diese barbarische Tradition wurde unter Verweis auf 1 Kor 14,34 legitimiert, nach der Frauen in der Kirche zu schweigen hätten, also auch nicht singen sollten. Die Kastraten mit ihrer chirurgisch eingefrorenen hohen Stimme übernahmen dann die Frauenpartien, sie klangen dank des größeren Lungenvolumens kräftiger und schmetternder als jene, sie wurden ähnlich dem metallischen Klang einer Trompete beschrieben.

Heutige Aufführungen barocker Oratorien brauchen gottlob nicht mehr auf Kastraten zurückzugreifen, vielmehr übernehmen Altistinnen oder Countertenöre deren Passagen. Letztere singen nicht mit ihrer Brust-, sondern mit ihrer Kopfstimme, dabei die Schädelhöhlen als Resonanzkörper nutzend. Diese Technik erfordert ein langes intensives Training und führt nicht immer zum gewünschten Ergebnis. Kerstin hatte sich einmal in der Praxis mit einer Lehrerin versucht, war aber davon abgekommen; zu unnatürlich die dafür erforderliche Atmung, zu eng und starr der vokale Raum der Mundhöhle, zu krampfend die damit einhergehenden Muskelkontraktionen. Sie hatte einmal den französischen Countertenor Philippe Jaroussky in einer Monteverdi-Oper Unter den Linden erlebt und war hingerissen von seiner Stimme aus Seide, Licht und Wind. Doch selbst verfügte sie nicht über ein solches Organ, sodass sie in Gemeinschaft lieber schwieg, als die Partien eines Tenors zu singen.

Sie erinnerte sich der Aussage eines Mönches, den Heiligen Augustinus zitierend, dass, wer singe, doppelt bete. Dem war nur beizupflichten, nur gelang ihr dies nicht offen in der Gemeinde mit zugewiesenen Tonlagen. Beim Messgesang summte sie mehr, denn dass sie sang; sie selbst hörte ihre Stimme als rein und tonsicher und hoffte, die anderen dadurch nicht zu stören. Der heilenden Kraft der Musik konnte und wollte sie sich nicht entziehen, sie genoss den Schauer der Rührung, der sie gemeinsam mit Tränen erfasste, ob sie nun das Adeste Fideles oder Ik sta voor U in leegte en gemis intonierte, die Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor oder eine zeitlose Weise von Abba. Nur war sie mit ihrer Stimme nicht geschaffen für einen Chor mit klaren Rollen; sie war generell nicht tauglich für die Gruppe, die Equipe, die Einheit, das Peloton, sie war bestimmtfür das Solo, und auch das nur im Privaten, nicht auf der Bühne.

Dem Tischnachbarn gab sie auf seine Frage die ausweichende Antwort, dass sie lieber der Musik zuhöre, als sie selbst mitzugestalten. Diese halbe Wahrheit nahm sie sich selbst nicht vollends ab, konnte sie aber in Gesellschaft gelten lassen. Nach Beendigung des Abendbrotes ging sie hinauf auf ihr Zimmer, ein wenig in der illustrierten Geschichte der Abtei blätternd. Dem Buch konnte sie entnehmen, dass die Pflege des gregorianischen Gesangs konstitutiv für die Benediktiner generell und für diese Abtei speziell sei; professionelle Musiker unterwiesen ihre Brüder in dieser Kunst, bis sie alle ein zufriedenstellendes Niveau erreicht hatten. Zur Komplet ging sie erneut hinunter in die Abteikirche, ein letztes Mal am Tag zogen die Mönche ins Gestühl und psalmodierten den Dank an den dreieinigen Gott. Kerstin ließ sich forttragen von der einen Stimme, die sie mit geschlossenen Augen vernahm, bevor das heilige Schweigen der Nacht sie alle umfing. Die einen singen, die anderen lauschen, all das gehört zur Musik, war ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen.