Wie schon im ersten Schauprozess war klar, dass der Ausgang des Verfahrens bereits feststand. In ihm konnte alles behauptet und alles konstruiert werden, denn es gab keine Beweise, sondern nur die Geständnisse der Angeklagten. Die Würdigung der Indizien oblag einzig und allein der „Erfahrung des Gerichts“. Wyschinski ließ daran, dass dieser Prozess ohne Beweise auskommt, keinen Zweifel: In einem Verfahren gegen Verschwörer könne es keine Beweise geben. – Karl Schlögel, Terror und Traum: Moskau 1937
Arthur Koestler wird 1905 in eine jüdische Familie in Budapest geboren und wächst in einer Kultur der Bildung und der Mehrsprachigkeit auf. Er beginnt ein Studium des Maschinenbaus in Wien und bricht dieses ab, arbeitet in einem Kibbuz in Palästina und schreibt als politischer Korrespondent für Ullstein aus Jerusalem. 1931 tritt er in die KPD ein, 1932 reist er für ein Jahr durch die Sowjetunion und lernt Karl Radek und Nicolai Bucharin kennen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 geht er im Auftrag der Partei nach Paris, ab 1936 kämpft er im Spanischen Bürgerkrieg gegen das Franco-Regime. 1937 wird er in Sevilla verhaftet, rechnet mit seiner Hinrichtung, wird aber auf Betreiben der Briten entlassen. 1938 erklärt er unter dem Eindruck des dritten Moskauer Schauprozesses gegen altgediente Bolschewiki seinen Austritt aus der KPD.
1940 kommt er illegal nach Großbritannien, wo sein Roman „Sonnenfinsternis“ auf Englisch erscheint. Das Buch macht ihn schlagartig berühmt und löst unter der linken Intelligenz in Europa eine heftige Diskussion aus, der Renegat Koestler wird nach 1945 als ein Vorkämpfer des aufziehenden Kalten Krieges beschimpft. Er zieht sich mehr und mehr vom politischen Journalismus zurück und widmet sich, nun mehr vollends auf Englisch schreibend, Fragen des Lernens und der Kreativität. 1983 schließlich nimmt er sich gemeinsam mit seiner deutlich jüngeren Ehefrau in London das Leben, mutmaßlich wegen einer progredienten Parkinson-Erkrankung. Den Großteil seines Vermögens stiftet er posthum zur Errichtung eines Lehrstuhls für Parapsychologie, der schließlich an der Universität Edinburgh angesiedelt wird.
Zwischen 1936 und 1938 kommt es in Moskau zu drei spektakulären Prozessen gegen hohe Parteifunktionäre, Wirtschaftsführer und Armeegeneräle. Der erstaunten Öffentlichkeit wird vom Untersuchungsführer Andrei Wyschinski mitgeteilt, die Angeklagten hätten sich schlimmster Verbrechen gegen den Staat schuldig gemacht: Sie hätten Sabotageakte geplant und verübt, die Sowjetmacht beseitigen wollen, mit dem Feind konspiriert, eine Verschwörung gegen die Revolution vorbereitet, und weitere absurde Anschuldigungen mehr. Als schließlich die alten Weggefährten des roten Oktober 1917 vor dem improvisierten Gericht im Haus der Gewerkschaften stehen, sind ihre Körper und Gesichter zerschunden von der Folter während der Haft. Seelisch gebrochen, gestehen die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten und werden unter dem tierischen Geheul der Zuschauer zum Tode durch Erschießen verurteilt, wie räudige Hunde.
Es dauert bis zum XX. Parteitag der KPdSU 1956, bis Generalsekretär Nikita Chruschtschow, in den 1930er Jahren Moskauer Parteisekretär und Teil der engsten Führung um Josef Stalin, Auskunft gibt über die Hintergründe der satanischen Prozesse. Sämtliche Anschuldigen seien frei erfunden gewesen; die Geständnisse der Angeklagten erfolgten unter blanker Gewalt und dem faulen Versprechen, deren Leben zu schonen; es ging Stalin einzig darum, seine persönliche Macht durch Terror zu sichern und potentielle Nebenbuhler auszuschalten. Die spätere wissenschaftliche Forschung der 1990er Jahre bestätigt, was die memoirenhaften Zeugnisse Warlam Schalamows, Jewgenia Ginsburgs und Alexander Solschenizyns in den 1960er Jahren umreißen: Der Große Terror der 1930er Jahre in der Sowjetunion erfolgte willkürlich, Hunderttausende wurden grundlos, dafür nach regionalen Quoten, verhaftet und erschossen, Millionen wurden als Sklaven in den Gulag deportiert und dort zu Tode gearbeitet, ohne dass dieses Menschheitsverbrechen je vor einem ordentlichen unabhängigen Gericht gesühnt wurde.
Als Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ 1940 erscheint, befindet sich Europa im Krieg. Die Wehrmacht eilt im Westen von Sieg zu Sieg, halb Frankreich ist besetzt, Polen ist zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion aufgeteilt. Der Hitler/Stalin-Pakt von 1939 hat die Öffentlichkeit schockiert, vor allem die Sympathisanten der kommunistischen Diktatur. International renommierte Schriftsteller wie André Gide und Lion Feuchtwanger pilgern 1936 und 1937 nach Moskau und machen sich mit Ergebenheitsadressen an Josef Stalin lächerlich. Schon über den Holodomor der Jahre 1933/34, dem vor allem in der Ukraine mehrere Millionen Menschen durch eine staatlich gesteuerte Hungersnot zum Opfer fielen, wurde beflissen geschwiegen. Über die prominenten Opfern des Großen Terrors heißt es entschuldigend, dass eben Späne fallen, wo gehobelt werde; die namenlosen Elenden in den Bergwerken und auf den Baustellen des Gulag nimmt man gar nicht erst zur Kenntnis, autobiographische Texte von Entronnenen werden als Gräuelpropaganda abgetan.
Koestler lässt seinen Roman in einem nicht näher genannten Land spielen, doch ist es allein durch die Namenswahl der Protagonisten offensichtlich, dass nur die UdSSR gemeint sein kann. Rubaschow ist ein ehemaliger Volkskommissar (so das sowjetische Pendant zum Minister), der sich unter nebulösen Anschuldigungen im Gefängnis wiederfindet. Er, der ohne Zucken Funktionäre, die nicht spuren, beseitigt hat, wird nun selbst mit politischen Vorwürfen der Subversion, des Verrats, der Spionage und der Attentatsvorbereitung konfrontiert. Seine Haft und die Verhöre sind sorgfältig orchestriert: Er wird von jeder Information von draußen ferngehalten, Kontakte zu Mithäftlingen sind verboten, ein Untersuchungsrichter begegnet ihm jovial und zutraulich, ein anderer kalt und unbarmherzig. Isolation und Schlafentzug machen ihn mürbe, bis er schließlich so weit ist, das fabrizierte Geständnis zu unterschreiben, wissend, dass das sein Todesurteil ist.
In der Haft werden Rubaschow Papier und Stift gewährt, sein Vernehmer geht davon aus, dass der Gebildete mit diesen Werkzeugen versehen eher gefügig werden wird. Und in der Tat verfasst Rubaschow im Angesicht des nahenden Endes eine Beichte als Parteisoldat: „Wer letzten Endes recht hat, muß vorletzten Endes immer unrecht haben und Unrecht tun. Aber wer recht gehabt hat, das stellt sich erst nachträglich heraus. Bis dahin handelt man auf Kredit; in der Hoffnung auf die Absolution der Geschichte.“ Wer die Geschichte nur als Ablauf von Klassenkämpfen begreift, darf sich nicht durch ex post falsche Entscheidungen bremsen. Eine „Revolution nach den Regeln einer Tennispartie“ sei unmöglich, so der ehemalige Volkskommissar; Politik könne fair sein nur in den „Atempausen der Geschichte“, an den kritischen Wendepunkten gelte das Gesetz des Macchiavelli. Er nutzt die letzten Tage im Gefängnis, um sich von der kleinbürgerlichen Angst um sein Leben zu befreien und seine bevorstehende Ermordung „im Namen der kosmopolitischen Vernunft“ zu begrüßen, völlig egal, ob er individuell schuldig geworden ist oder einfach nur zur Nummer in einem opaken Rechenrätsel avanciert.
Nach Auffassung der Partei darf das Verfahren nach den Regeln der Heiligen Inquisition ablaufen: Ankläger und Richter sind identisch, eines Verteidigers bedarf es ebenso wenig wie stichhaltiger Beweise oder auch nur Indizien. Diese Relikte einer bourgeoisen Justiz seien durch die Revolution unnötig geworden, kämen hier doch nur Verbrechen zur Anklage, die vorab als erwiesen gälten. Dass es überhaupt zu einem Prozess kommt, ist ein reinigendes Ritual: Der Angeklagte soll sich schuldig bekennen, nicht um auf Milde zu hoffen, sondern um der Revolution und der Partei einen letzten Dienst zu erweisen. Es ist der hohen Stellung des Angeklagten geschuldet, dass er nicht vor ein öffentliches Tribunal gestellt wird und dort eine Bühne findet, sondern dass Befragung, Urteilsfindung und Hinrichtung hinter den dicken Mauern des Gefängnisses stattfinden.
Arthur Koestler schrieb diesen Roman im Stil einer journalistischen Reportage, durchsetzt mit dem vertrauten Jargon der Kader, der wiederum Anleihen nimmt beim Historischen Materialismus. Das deutsche Original ging während der Wirren der Flucht von Spanien über Frankreich nach Großbritannien verloren, die englische Erstveröffentlichung 1940 beruhte auf einer hastigen und in Teilen ungenauen Übersetzung des deutschen Manuskriptes durch Koestlers damalige Lebensgefährtin. Durch einen Zufall wurde 2015 durch einen Doktoranden ein Durchschlag des Originals im Archiv eines Schweizer Verlags entdeckt, editiert und 2018 schließlich publiziert, etwas überraschend in einem kleinen Verlag im westfälischen Coesfeld. Dessen ungeachtet, bleibt „Sonnenfinsternis“ ein zentraler politischer Roman des 20. Jahrhunderts, der das Wiederlesen gerade in der Sprache, in der der Autor seinerzeit hauptsächlich sprach und schrieb, lohnt. Zeigt er doch die Brutalität eines Regimes, das sich anschickt, im Namen einer verheißungsvollen Ideologie ohne Zögern und aus einer Laune Millionen Unschuldiger zu opfern, für nichts und wieder nichts.
Bereits zu Zeiten Wladimir Iljitsch Lenins geriet die innerparteiliche Opposition unter den Verdacht der Konterrevolution. Als Josef Stalin dann 1928 alle innerparteilichen Rivalen wie Leo Trotzki, Lew Kamenjew, Nikolai Bucharin und Grigori Sinowjew kaltgestellt hatte, wurde schon die Fraktionsbildung innerhalb der KPdSU als Verrat an der Revolution betrachtet und bestraft. Stalin, in der „Sonnenfinsternis“ als „No. 1“ verbrämt, war zum alleinigen Diktator der UdSSR geworden, der einen grotesken Personenkult um sich inszenierte. Sein Wort wurde als die einzig richtige Linie der Partei identifiziert, von der nur ein Jota abzuweichen auch Angehörige des Politbüros das Leben kosten konnte. Das erfährt auch Rubaschow bei seiner Verhaftung, als ihm mitgeteilt wird, dass er zu wenig wachsam gewesen sei gegen Verschwörungspläne, Umsturzvorhaben, konterrevolutionäre Umtriebe und dergleichen. Das eiserne Diktum, dass die Partei immer Recht habe, bedeutet weiter, dass jene, die das selbstständige Denken nicht lassen können, als Schädlinge und Volksfeinde entlarvt und vernichtet werden müssen.
Dieser perversen Logik folgt auch der namenlose Apparat in der „Sonnenfinsternis“. Als Mitglied der Nomenklatur hat Rubaschow verinnerlicht, dass das Leben des Einzelnen nichts wert sei in Bezug auf das große Ganze. Dementsprechend bekennt er sich „schuldig, den Begriff des Menschen höher gestellt zu haben als den Begriff der Menschheit“. Der Kommunismus in der Sowjetunion unter Stalin geht im Wortsinn über Leichen, das Ziel rechtfertigt jedes noch so monströse Mittel, die Diktatur des Proletariats wird schließlich aufgehoben in der Willkürherrschaft eines gefühlskalten Tyrannen, der das Riesenreich in ein Arbeits- und Vernichtungslager verwandelt. Die „Sonnenfinsternis“ ist eine packende Bestandsaufnahme aus dem Inneren einer zu allem entschlossenen gewaltbereiten Lehre, die Menschen zu Ungeziefer erklärt, das zertreten werden müsse. Wer hier Parallelen zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus sieht, liegt durchaus richtig – ersterer ist nur deshalb intellektuell nicht vollends erledigt, weil ihm noch immer hehre Motive zugeschrieben werden. Zu Unrecht, wie man jetzt wieder bei Koestler nachlesen kann.