Sonnenwende

Das Schlimmste ist überstanden, seit dem 21. Juni werden die Tage wieder kürzer und das Licht verebbt unweigerlich. Mit dem Beginn des kalendarischen Sommers nimmt zwar die unmenschliche Hitze nicht sofort spürbar ab, allerdings arbeitet die Zeit nun gnädig gegen sie. Sascha freut sich, dass die Erde ab jetzt wieder auf der richtigen Seite der Gestirne steht, mit der wachsenden Kraft des Mondes. Bewusst antizyklisch entzündet sie Bienenwachskerzen mit ihrem sanften Flammenschimmer und opfert dazu Räucherstäbchen mit Rosenduft.

Die hellen und heißen Tage sind eine Zumutung für das Leben, gerade in der Stadt. Dass hier zu viele Menschen auf zu wenig Raum leben, wird im Sommer ungefiltert deutlich, wenn sich die Aktivitäten vemehrt im Freien abspielen. Am Seeufer, im Straßencafé, auf den Plätzen und in den Geschäften tummeln sich die Leute im bunten Strandtextil, das missratene Tattoos, vergrößerte Poren und aus dem Leim gegangene Leiber entblößt. Dazu ist der geballte Geruch der Hominidenherden wie im Treibhaus eine sinnliche Belastung; wie froh ist Sascha, dass sie mit dem Rad ins Büro fahren kann und nicht werktags inmitten schwitzender Körper in Bus und Bahn gepfercht wird.

Der Sommer bringt jede nicht ganz makellose Stelle der Haut, der Muskeln und des Bindegewebes unbarmherzig zum Vorschein, im Spiegel der riesengroßen Werbeplakate mit ihrer klinischen Ästhetik der Distanz zeigen sich die echten Menschen mit ihrer verbrannten Haut, der japsenden Kurzatmigkeit, den verklebten Haarresten und den vor Schweiß glänzenden geröteten Gesichtern in groteskem Gegensatz. Während man sich im Winter im Duett mit der Kälte entsprechend anziehen und dabei schmücken kann, findet das Ablegen der Kleidung im Sommer seine natürliche Grenze. Es bleiben Nacktheit ohne Erotik und ein biologischer Fluchtimpuls.

Der Sommer mit seinen verdorrten Feldern hat für Sascha die Unschuld ihrer Kindheit längst verloren. Sie erinnert sich lebhaft ineinander fließender Tage im Freibad, im Garten, im Wald und an der See, der Sommer in seiner Trägheit stand für große Ferien und für eine unbestimmte Freiheit mit dem Versprechen einer offenen Welt. Ist es der viel zitierte Klimawandel, der ganz unabstrakt in Gestalt einer fünf Monate währenden Stauhitze auch Mitteleuropa hinunterdrückt? In den Mittelmeerländern leben die Menschen seit jeher mit einer harten Sonne, der sie mittags zur Siesta aus dem Weg gehen; sie essen erst am Abend, bewegen sich gemächlich und bauen helle Häuser zum Reflektieren des Gleißens.

In den Ländern des Baltikums und Skandinaviens sowie den alten Siedlungsgebieten der Kelten lebt der heidnische Brauch der Feier der Sonnenwende mit Freudenfeuern weiter. Hier blühen die Sommer traditionell kurz, und das magische Licht des Nordens wird von den Menschen gierig aufgesogen, weil es bald wieder schwindet. Der christliche Johannistag am 24. Juni markiert zudem eine Schwelle des Glaubens, er gedenkt Johannes des Täufers, der als erster den Messias Jesus Christus erkennt und seine Macht der Erlösung preist. Und es ist sicher kein Zufall, dass in vielen Städten Europas am 21. Juni die Fête de la Musique mit zahlreichen Bands auf Bühnen unter freiem Himmel begangen wird.

Um dieses Datum herum kommt auch das öffentliche Leben zum Erliegen. Die Schulen schließen für knapp sieben Wochen Ferien, die Theater und Opern gehen in die Bühnenpause, Parlament und Verwaltung schalten in den Dämmermodus. Die gestaltete Kultur weicht der gefundenen Natur, die Menschen verdösen ihre Zeit auf der Datscha und verfolgen die Tour de France vor der erhabenen Kulisse des Hochgebirges; die zivilisatorische Disziplin greift weniger eng als gewohnt, die allgemeine Last des Daseins führt zur Nachsichtigkeit. Zwar ist die Stadt etwas weniger voll als sonst, die verbliebenen Autofahrer aber machen diesen Gewinn mit besonderer Rücksichtslosigkeit wieder zunichte. Das Sommerhirn trocknet aus, die Empathie am Steuer sinkt ebenso wie die Reaktionsschnelligkeit.

Für Sascha ist der Sommer eine kreatürliche Anstrengung. Die permanente Helligkeit, die kaum je durch Schatten und Wind, Wolken und Gewitter gebrochen wird, kann zum Auslöser einer Migräneattacke mit Sehstörungen, Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerz werden, gegen die nur Ruhe und Dunkelheit helfen. Im Bett liegt griffbereit eine Augenmaske, die sie sich im Halbschlaf der Nacht überzieht, um nicht vom flutenden Licht des frühen Morgens ab 4:00 Uhr geblendet zu werden. Tagsüber hält sie alle Vorhänge zugezogen; wenn sie am Abend nach Hause kommt, schlägt ihr abgestandene Luft entgegen, die auch das nachts geöffnete Fenster nicht vertreiben kann. Das steinerne Meer mit seinen Asphaltbändern speichert die Glut des Tages, Bäume ächzen vor Trockenheit.

Auch wenn sich ihr Organismus über die Wochen an die zehrende Hitze gewöhnt hat, ist sie selig, dass sie ihr jahreszeitliches Ende finden wird. Die Nächte werden seit der Sonnenwende wieder länger, peu à peu und ganz von selbst. Sie trinkt viel Wasser und Grünen Tee, nascht zwischendurch Kirschen, Salatherzen, Joghurt und Oliven. Die schlimme Zeit diskreter Menschenfeindlichkeit geht vorüber, mit den kommenden Stürmen des Herbstes kehren auch das Denken und die Melancholie zurück, die jetzt von Mattigkeit und schierer Aggressivität verdrängt sind. Gerade im Sommer reicht ein Glas Bier, um soziale Hemmungen außer Kraft zu setzen und eine sinnlose Schlägerei unter Männern in Gang zu bringen. Mit der Rückkehr des Dunkels greift auch die Vernunft wieder um sich, diese Hoffnung wird zum Ende des Sommers zur Gewissheit. Gott sei Dank.