Sotchi zählt zu den begehrten Ferienorten Russlands, der Strand an der Ostküste des Schwarzen Meeres wird auch Rote Riviera genannt. Die Stadt mit ganzjährig mildem Klima ist nicht nur ein Ziel des gehobenen Bädertourismus, sondern immer wieder auch Ort sportlicher Großereignisse. So fanden etwas überraschend die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotchi statt, obwohl es in Russland weiß Gott genügend Gegenden gibt, die sich topografisch und klimatisch besser für den Wintersport eignen. Ebenfalls 2014 trafen sich Magnus Carlsen und Viswanathan Anand in Sotchi zu ihrem zweiten WM-Kampf um die Schachkrone. Bei der Abschlusszeremonie war mit Vladimir Putin erstmals das Staatsoberhaupt eines austragenden Landes anwesend.
Auch heuer geht es am Schwarzen Meer wieder um Schach. Bis Anfang August findet in Sotchi der FIDE-Weltcup statt, neben dem WM-Match im Dezember sicher das wichtigste Schachereignis des Jahres. Bei den Männern (206 Teilnehmer) geht es um insgesamt 1,8 Mio. USD Preisgeld, bei den Frauen (103 Teilnehmerinnen) um 670 000 USD. Mindestens ebenso attraktiv ist die Qualifikation der beiden Finalisten für das kommende Kandidatenturnier zur Ermittlung des Herausforderers des Weltmeisters, bei den Frauen werden gar drei Plätze zur Ermittlung der Herausforderin vergeben. Dessen ungeachtet nimmt der Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen am Knock-out-Turnier teil, während Weltmeisterin Ju Wenjun aus China nicht am Brett sitzt. Allerdings sind die Spitzenspieler aus dem Reich der Mitte Opfer einer rigiden Corona-Politik, die das Reisen nach Russland weiterhin sehr erschwert.
Allein dass das Turnier real stattfinden kann, ist nach über einem Jahr des sterilen Online-Schachs ein Segen. Die Teilnehmer sitzen ohne textile Atemhemmung am Brett, keine Plexiglasscheibe mit Durchreiche über den Figuren behindert die Züge. Die Spielerinnen und Spieler bewegen sich in einer Blase, regelmäßige PCR-Tests sind obligatorisch, bei einem positiven Testergebnis erfolgt die sofortige Entfernung des Spielers aus dem Turnier. Neben diesen medizinischen Hürden müssen sich die Aktiven in einem anstrengenden Modus beweisen: Pro Runde werden zwei Partien mit langer Bedenkzeit gespielt, steht es danach noch unentschieden, erfolgt die Entscheidung im Schnellschach und gegebenenfalls im Blitz. Dieses Knock-out-System, das nur die jeweiligen Sieger in die nächste Runde einziehen lässt, setzt gute Nerven, Routine mit verschiedenen Bedenkzeiten, exakte Vorbereitung, Ausdauer und auch Glück voraus.
Bei den Frauen kommt es zur zweiten Partie des Viertelfinales. Die Nummer Eins der Setzliste, Vizeweltmeisterin Aleksandra Goryachkina, hat gegen die junge Kasachin Dinara Saduakassova remisiert, mit einem Sieg heute zöge sie ins Halbfinale ein. Beim rein russischen Duell zwischen Alexandra Kosteniuk und Valentina Gunina konnte die Exweltmeisterin die erste Partie für sich entscheiden, sie geht mit einem ordentlichen Vorsprung in die heutige Begegnung. Nana Dzagnidze (Georgien) gegen Anna Muzychuk (Ukraine) konnte man ebenso erwarten wie Tan Zhongyi gegen Kateryna Lagno (Russland); unter den letzten Acht sind ausnahmslos Spielerinnen vertreten, die zur Weltspitze zählen und die zurecht um die Teilnahme am nächsten Kandidatinnenturnier kämpfen.
Bei den Männern sind noch 16 Spieler mit von der Partie. Mit Fabiano Caruana (USA), Levon Aronian (Armenien), Alireza Firouzja (Frankreich) und Shakhriyar Mamedyarov (Aserbaidschan) sind in früheren Runden bereits einige Schwergewichte ausgeschieden. Die russische Dominanz ist hier nicht ganz so gegeben wie bei den Frauen, wenngleich mit Peter Svidler, Alexander Grischuk, Sergey Karjakin und Andrey Esipenko starke Spieler aus der Föderation mit berechtigten Hoffnungen auf das Erreichen des Finales mit dabei sind. Die Remisquote erhöht sich, je weniger Spieler im Turnier verbleiben, da die schwächeren in der Regel ausscheiden.
Den Männern wie den Frauen ist es anzumerken, wie groß die Erlösung ist, endlich wieder real am Brett mit einem Gegenüber sitzen und nicht mehr nur auf einen fahlen Monitor mit einem 2-D-Schachbrett zu schauen. Dass Schach auch eine physische Angelegenheit ist, wird bei der markanten Körpersprache mancher Aktiver deutlich. Da werden Augenbrauen nach oben gezogen, der Kopf wird geschüttelt, vor einem als gut vermuteten Zug umspielt ein Lächeln die Lippen, zur Beruhigung der Nerven wird ein bereits geschlagener Bauer rituell mit den Fingern gedreht wie die Perlen eines Rosenkranzes, die Füße trommeln einen stummen Stepp unter dem Tisch auf den Boden, nach einem knappen Sieg ist das erleichterte Seufzen trotz des stummgeschalteten Spielortes zu vernehmen. Die Hände der Schachspieler schließlich greifen virtuos zielsicher nach den Figuren, wie es die Hände einer Pianistin mit den schwarzen und den weißen Tasten eines Steinway tun. Ein weiterer, sehr sachlicher Vorteil des Treffens im Turniersaal ist der Umstand, dass es hier sehr viel schwieriger ist, den Gegner mit einer rechnenden Software zu betrügen. Allein das fehlende Publikum vor Ort in Sotchi ist ein Hinweis auf eine noch fragile Normalität.
Auch im Zeitalter der Popularisierung des Schachspiels durch das Internet ist es nicht immer einfach, ein Turnier auszurichten respektive einen Preisfonds auszuloben. Der laufende Worldcup in СОЧИ profitiert dabei von der russischen beziehungsweise sowjetischen Tradition, die Schach als Volks- wie Spitzensport fördert. Zwar sind mit Indien, China, Frankreich, Polen und den USA ernsthafte Anwärter auf die Medaillenränge bei Olympiaden dazu gekommen, allerdings gehen Russland und die Ukraine bei den Männern wie den Frauen als favorisierte Nationen an den Start. Das Turnier im Galaxy Entertainment Center in Krasnaja Poljana wird von den russischen Konzernen Gazprom, Nornickel und Phosagro finanziert. Die Partien werden live im Internet auf verschiedenen Plattformen kommentiert, auf Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch.
Die Fotos des Ausrichtungsortes inmitten des Gebirges lassen eine luxuriöse Angelegenheit vermuten, dabei ist das Schachspiel am Brett die lang ersehnte Rückkehr zu Alltag und Gewohnheit. Das professionelle wie private Schachspiel konnte während des Regimes der Pandemie-Maßnahmen komplett ins Internet verlegt werden, was aber nicht mehr als eine Kompensation darstellte. Auch für diejenigen, die von sich sagen, sie spielten gegen Figuren und nicht gegen Personen, können die einmalige Atmosphäre eines Wettkampfes auf Dauer nicht entbehren. Erst am Brett ist es möglich, die Perspektive auf das Geschehen zu erweitern. Wer auf hölzerne Figuren blickt, sieht mehr als am Bildschirm; als Kiebitz hat man den seitlichen Blick auf das Brett, was die Chancen beider Seiten besser erkennen lässt. Das ist die wohltuende Erkenntnis des Worldcups in Sotchi und seiner Übertragung im Internet: Schach ist nicht nur die Legierung aus Kunst, Sport und Wissenschaft, es ist soziale Interaktion zweier Geister, körperlich vermittelt durch weiße und schwarze Steine. Unwiderstehlich.