Spazieren

Der Unterschied ist einfach: Beim Gehen hat mindestens einer der Füße Kontakt zum Boden, beim Laufen befindet sich der Körper bei jedem Schritt kurz in der Luft. Das „Spazieren“, entlehnt aus dem italienischen spaziare, dieses aus dem lateinischen spatiari, was „sich ergehen“ bedeutet, gehört eindeutig ins Reich des gemächlichen Gehens. Der lateinische Stamm des spatium bedeutet „Raum“ oder auch „Weite“ und lebt im englischen space.

Bis zur Etablierung der Eisenbahn im 19. und des Automobils im 20. Jahrhundert als Massentransportmittel war das Fortbewegen des Menschen auf seinen zwei Beinen der Mobilitätsstandard. Das Reiten auf Pferden und damit das Überwinden größerer Distanzen war Fürsten, Kaufleuten und hohen Militärs vorbehalten. Dessen ungeachtet ist das „Spazieren“ heute mit einer zweckfrei verbrachten Stunde assoziiert, es genießt die Nähe des Schlenderns, des Promenierens und des Bummelns. Geradezu nobilitiert wird das urbane Herumschweifen als Flanieren, das den staunenden Blick auf die nervöse Metropole erlaubt.

Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser versucht sich in seiner Erzählung „Der Spaziergang“ aus dem Jahre 1917 an einer Befreiung des Spazierens vom Ruch der Träumerei und des Zeitvertreibs. Für ihn bedeutet es das Inspiriertwerden durch die Umgebung für sein literarisches Werk: „Spazieren muss ich unbedingt, um mich selbst zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet.“

So gesehen wird das Spazieren von einer Pause der geschäftigen Arbeit zu ihrer elementaren Voraussetzung – eine Haltung, die zu Walsers Zeiten ebenso suspekt war, wie sie es heute in der Ära der permanenten Verfügbarkeit ist. Bestenfalls als Praxis der Erholung ist das Spazieren gelitten, dann aber bitte after work; werktags demaskiert man sich damit als Nonvaleur der globalisierten Profession und ihrer Kreativwirtschaft, die ihre Effizienz einfallslos quantitativ über die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit bemisst.

Welch ein Irrtum, wie bereits Robert Walser fein- und hintersinnig erkannt hat. Der moderne Mensch, gebeugt und verspannt hinter seinen diversen Bildschirmen, kann sich gar nicht häufig genug bewegen – das Schreiten ist die einfachste Übung im aufrechten Gang, der die Gattung unter anderem definiert. Das scheinbar absichtslose Gehen ohne Termin kommt dem menschlichen Tempo und seiner Raumgebundenheit sehr entgegen, das Hirn profitiert kolossal vom beschleunigten Blutkreislauf, die Sinne filtern Reize und füttern die Fantasie. In der Folge wird das einschüchternd leere Blatt des Autors zur dankbaren Einladung.

Der Spaziergang an der frischen Luft, ob auf dem Boulevard, auf der Brache, im Kiez oder im Park, erst recht im Wald oder am Wasser, ist eine kurze Reise im Alltag, leistungs- und konsumbefreit. Eine Erfahrung, die viele Menschen heute schmerzlich missen, ohne zu wissen, wie sie denn zu machen wäre. Sie beginnt mit dem Vertrauen auf das Analoge, auf das Selberfinden des Weges, auf die eigene Improvisationsfähigkeit im Angesicht kommender Begegnungen. Und sie attestiert, dass die kuratierten Bilderfluten digitaler Plattformen nur ein geschönter Abklatsch der Realität sind.

Die Dialektik des Spazierens zwischen Voraussicht und Geschehenlassen hat Walser gut erkannt, im Verlauf des Gehens wird seine schöpferische Aktivität angeregt: „Den Spaziergänger begleitet stets etwas Merkwürdiges, Gedankenvolles und Phantastisches, und er wäre dumm, wenn er dieses Geistige nicht beachten oder gar von sich fortstoßen würde. (…) Ich verdiene mit einem Wort mein tägliches Brot durch Denken, Grübeln, Bohren, Graben, Sinnen, Dichten, Untersuchen, Forschen und Spazieren so sauer wie irgendeiner.“ Es kommt nicht auf das Immer-noch-mehr der ewig gleichen Eindrücke an, sondern auf ihre Durchdringung und Verarbeitung. In der Folge entsteht dann das künstlerische Werk, ein dem Katholizismus wie dem Zen einleuchtender Gedanke.