Die Wurzel des Begriffs „Stigma“ ist bereits deutlich genug hinsichtlich seines Sinnes: Im Griechischen meint es den Stich resp. den Punkt. Im christlichen Kontext sind die Stigmen die Wundmale des Gekreuzigten an Händen, Füßen und Flanke; im weiteren sozialen Rahmen ist ein Stigma ein beschämendes, entehrendes Zeichen, das ein Individuum resp. eine Gruppe vor anderen etikettiert und entwertet.
Die Stigmatisierung einer Person fällt in eins mit ihrem (partiellen) Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gesunden, wie es der Soziologe Erwing Goffman in seiner bahnbrechenden Studie Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität von 1963 festhält. Er geht noch weiter und sagt, die Gemeinschaft der Gesunden benötige die Aussätzigen geradezu, um sich der eigenen fragilen Überlegenheit zu vergewissern.
Der „Stich“ im Griechischen ist durchaus wörtlich zu verstehen: Seinerzeit wurden den zu Markierenden die Zeichen in die Haut geritzt oder gebrannt, um sie für alle sichtbar und unauslöschlich als Verräter, Verbrecher, Sklaven oder sonstwie unreine Personen zu brandmarken. Die Stigmatisierten realisieren dabei zwei Identitäten: die der Normalen und die der Defekten, beide ellenlang von jedwedem Ich-Ideal entfernt.
Heute findet eine Stigmatisierung subtiler statt. Menschen erleben Ausgrenzung und Abwertung, weil sie arm oder behindert sind, die falsche Hautfarbe haben, gängigen Schönheitsnormen nicht entsprechen, über unzureichende Bildung verfügen etc. Diese „Defizite“ schlagen sich in einem Habitus der Beschämung nieder, sie ziehen sich von selbst zurück und meiden das Licht und die offene Bühne – sie stimmen ihrer Ausgrenzung zu.
Die verinnerlichte Bereitschaft zu Selbst-Ausschluss und -Abwertung kann soweit gehen, dass Menschen es verheimlichen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Allein der Verdacht, sich in Psychotherapie zu begeben, kann dazu führen, dass ein Mensch als pervers, moralisch verwerflich, charakterlich zweifelhaft gilt – ein krasser Affront dem Zwang zum Jungen, Schönen, Erfolgreichen, Makellosen der Leistungsgesellschaft gegenüber.
Nach Goffman ist ein „Stigma-Management ein allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft (…), ein Prozeß, der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“. Dabei hat es keinen Sinn, vorhandene Differenzen zwischen Menschen zu leugnen; die Frage wird sozial und politisch, wo Unterschiede negativ konnotiert sind. Eine Strategie der Opposition besteht im Versuch, den Gehalt des Zeichens umzuwerten; dies beginnt mit Aufklärung.
Zum Stigma-Management gehört es, sich so normal und akzeptabel wie möglich zu präsentieren, das „Zeichen“ zu verstecken und die Umwelt zu täuschen; dieses Vorgehen ist sogar erwünscht. Die bekundete Toleranz gegenüber Schwulen etwa findet schnell ein Ende, wenn diese sich in der Öffentlichkeit küssen; inszenieren sie sich als sexuell indifferent, dürfen sie ihren Platz in der Gesellschaft fürs erste behalten.