Das Gefühl der Freiheit ist eines der größten Geschenke, die einem das Laufen geben kann. – Heather L. Reid
Nach einem gemächlichen Einlaufen über breite Waldwege stoppte die Gruppe an einem größeren Platz nahe des Teufelssees. Hier fand das rituelle Dehnen der unterschiedlichen Muskelgruppen statt, um diese für den eigentlichen Land geschmeidig und warm zu machen. Einer der erfahrenen Läufer beschrieb die jeweiligen Übungen, die die Gruppe dann konzentriert ausführte. Strecken des Beines nach hinten bei flacher Sohle zur Dehnung der Achillessehne, Beugen des Knie bis zum Po zur Kräftigung des Oberschenkels, Rumpfbeugen zur Straffung der Bauchmuskeln, Kreiseln des Kopfes zur Lockerung des Nackens. Diese Übungen, so der Gedanke, sollten den Körper an die bevorstehende Belastung heranführen, die mit der Zeit stetig zunahm. Sie sollten ein ruckartiges Wackeln auf der zweiten Hälfte der Strecke verhindern und damit Verletzungen vorbeugen.
Nach diesem spielerischen Auftakt bildeten sich mehrere Laufgruppen, je nach angestrebter Streckenlänge und zu laufendem Tempo. Kerstin schloss sich mit Mario, Jan, Eckart und Jürgen den schnellsten Läufern an, von den bisherigen Trainingseinheiten wusste sie, dass sie deren reguläres Tempo über die anspruchsvolle Havelhöhenrunde gerade so mitgehen konnte. Sie wollte von den Besten lernen, um selbst besser zu werden. Ihr Ziel war es, bei ihrer anstehenden Marathonpremiere im Herbst in die Nähe der magischen drei Stunden zu gelangen. Da war es gut, sich jene zum Maßstab zu nehmen, die bereits eine Sub 3 beim Marathon vorweisen konnten.
Es war einer der milden Tage im August, noch stand die Sonne hoch, aber sie brannte nicht unbarmherzig. Sie liefen in gleichmäßigem Tempo, das ein Reden noch erlaubte; Kerstin war klar, dass mit zunehmender Streckenlänge die Geschwindigkeit gesteigert werden würde – leichtes Einlaufen, konzentriertes Hochfahren, Grundlagenausdauer, schließlich Beschleunigen und Halten des Wettkampftempos bis zum Endspurt. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, in der Tradition der Rennradfahrer zu kreiseln; einer ging nach vorn in die Tempoarbeit, nach zwei Minuten rückte der nächste nach vorn, dann übernahm der dritte, sodass jeder das Wechselspiel von Führung und Mitlaufen kennenlernte. Die Waldwege waren teils sandig, teils durchwurzelt, manche waren kurvig, andere lang gezogen. Die sich dauernd ändernde Topographie war eine zusätzliche Schulung für einen aufmerksamen Tritt; anders als beim Laufen auf Asphalt gab es im Wald viel mehr Hindernisse, die aber nur dann zur Sturzgefahr wurden, wenn das Auge aktiv nach ihnen suchte.
Es war ein Genuss, Mario beim Laufen zuzusehen; er bewegte sich mit einer Eleganz, Ökonomie und Zielstrebigkeit vorwärts, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Er nahm große Schritte und rollte lehrbuchhaft über den Mittelfuß ab, sich mit den Zehen am Ende jedes Schrittes noch einmal abstoßend. Die Arme im Ellenbogen im rechten Winkel gebeugt, die Handgelenke gestreckt, als trieben die oberen Extremitäten den Läufer ebenso nach vorn wie die unteren. Der Rumpf leicht nach vorn gebeugt, die Halswirbelsäule als Verlängerung des Rückens. Der Kniehub und das Anfersen fast so hoch wie bei einem Mittelstreckenläufer, die ganze fließende Bewegung wie eine Studie, die am großen Paavo Nurmi Maß nahm. Dazu ein flüssiger Atem, leise und behende.
Kerstin waren die sich kreuzenden und sich wieder entfernenden Wege im Grunewald durch ihr regelmäßiges Training vertraut; wenn sie allein unterwegs war, lief sie ohne Uhr und konzentrierte sich auf eine saubere Technik und ihr von innen wachsendes Körpergefühl. Sie hatte es im Blut, schneller oder gemächlicher zu laufen; wichtig waren die Kilometer pro Woche, das Dehnen zum Runterkommen und das Schwimmen als Ausgleichssport. In einer anderen Trainingsgruppe ging es entlang der Seenkette die Hundekehle, die Krumme Lanke und den Schlachtensee entlang, bis zur Wende am Wannsee. Diese langen Läufe mit rund 34 Kilometern hatten vor allem eine psychologische Wirkung, sie führten Geist und Organismus an die heftigen 42 Kilometer des Marathon heran und signalisierten, dass auch der längste Lauf mit dem ersten Schritt beginne und jede Meile eine kleine Etappe sei.
Mit den Jungs ihrer Laufgruppe begab sie sich auf ein neues Niveau. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Mario, Jan, Eckart und Jürgen ihr zuliebe ein ruhigeres Tempo anschlügen; sicher stand auch bei diesen Einheiten der Spaß an der Bewegung im Vordergrund, gleichwohl wollten alle noch ein bisschen schneller werden, und das ging nur durch schnelleres Laufen. Als die Führungsarbeit an Kerstin war, ging es gottlob leicht bergauf, was zu einer automatischen Reduktion des Tempos führte. Die sanfte Steigung ließ sie kurz auf dem Vorfuß laufen, was eine besondere Belastung der Wadenmuskulatur und der Achillessehne darstellte und entsprechend geübt werden musste. Eine bessere Situation für diesen Zweck konnte Kerstin sich kaum vorstellen. Ihr Zwerchfell pumpte im tiefen Rhythmus, die Sohlen ihrer leichten Schuhe tippten auf den märkischen Sand, der Schweiß sammelte sich im Nacken, oberhalb der Lenden und in den Kniekehlen.
Auf dem Kamm der Havelhöhe öffnete sich der Blick über Lindwerder zum anderen Ufer nach Gatow. Die Havel war hier so breit, dass sie mehr an einen See denn an einen Fluss gemahnte. Das Quintett hatte einen gleichen Takt gefunden, es kam Kerstin so vor, als bildeten sie einen gemeinsamen Körper, der in Bewegungen von allen zusammen geformt wurde. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen, die langen Haare wippten im Zopf von links nach rechts wie das Pendel einer Standuhr. Von der Havelchaussee drängten die surrenden Ketten einer Rennradgruppe nach oben, über ihnen sangen unsichtbare Vögel ihr Nachmittagslied. Ihr gleichmäßiges, tiefes Atmen komplettierte das Geräusch des Laufens auf federndem Waldboden.
Würde sie dieses Tempo einen ganzen Marathon durchhalten, ohne überhaupt zu wissen, wie sich die Strecke ab dem berüchtigten Kilometer 35 anfühlte? Auf ihren Trainingsläufen hatte sie noch nie Trinkflaschen mitgeführt, während eines Marathons war es unabdingbar, regelmäßig zu trinken, auch das würde sie noch üben müssen. Durch das dichte Geäst drängte sich die Sonne auf den Waldboden, der die Leinwand für ihre tanzenden Schatten abgab. Nach einer guten Stunde war Kerstin in einem Zustand angekommen, von dem sie annahm, dass er im Zen Satori genannt wurde, ein Zustand des schieren Geschehenlassens ohne Wille und Zweifel, ein Sein ohne Fragen und Beschwerden. Sie wusste, dass ihr Organismus mit der Zeit Endorphine ausschüttete, die die Pein des Laufens abmilderten und das Hirn mit ozeanischer Zufriedenheit fluteten. Als der Lauf nach rund 16 Kilometern auf dem großen Parkplatz schließlich endete, breitete sich ein wohliges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ob das Tempo für eine Sub 3 reichen würde, konnte sie nicht abschätzen. Das war auch nicht so wichtig, solange ihr das Laufen eine reine Freude war.