Take up the White Man’s burden – / Have done with childish days – / The lightly proffered laurel, / The easy, ungrudged praise. / Comes now, to search your manhood / Through all the thankless years, / Cold-edged with dear-bought wisdom, / The judgement of your peers! – Rudyard Kipling, The White Man’s Burden
Politische Beobachter, Liebhaber des Theaters und Freunde des schwarzen Humors kommen in diesem Jahr mit Blick auf Großbritannien voll auf ihre Kosten. Nicht nur verstarb Königin Elisabeth II. im September nach 70 Jahren Regentschaft auf dem britischen Thron, auch erlebte das gebeutelte Land wahre Turbulenzen an der politischen Spitze. Nachdem er im Sommer noch im Rennen um den Parteivorsitz der Konservativen Partei unterlegen war und seiner Rivalin Liz Truss den Vortritt lassen musste, beerbte er diese nach gerade mal sechs Wochen. Der neue Premier wird alles dafür tun müssen, damit die Konservativen bei der nächsten regulären Wahl zum Unterhaus 2024 kein Debakel erleben und erstmals seit 2010 wieder in der Opposition landen.
Das Drehbuch dieses Dramas hätte von William Shakespeare persönlich stammen können. Boris Johnson, ausgewiesener Brexiteer und Regierungschef seit der Wahl 2019, musste nach wochenlangem medialem und politischem Druck im Sommer 2022 sein Amt aufgeben und die Downing Street verlassen. Ihm waren quasi illegale Partys während des Corona-Lockdowns zum Verhängnis geworden. In einer Mitgliederabstimmung der Konservativen Partei setzte sich die bisherige Außenministerin Liz Truss gegen Rishi Sunak, den ehemaligen Finanzminister, durch. Ihr Konzept der nicht gegenfinanzierten Steuersenkungen für Reiche scheiterte krachend, das Pfund rauschte ab, die Bank of England musste intervenieren. Nach nur anderthalb Monaten im Amt hatte Truss keinen Halt mehr in der Fraktion und resignierte. Ihr Nachfolger Sunak hat wie sie kein Mandat der Wähler, lehnt aber vorgezogene Neuwahlen, wie sie Labour fordert, ab.
Rishi Sunak, Jahrgang 1980, wurde in Southampton als ältestes von drei Geschwistern geboren. Seine Großmutter war in den 1960er Jahren aus Indien nach Großbritannien ausgewandert, seine Mutter studierte Pharmazie und hatte eine Apotheke, der Vater arbeitete als Mediziner. Sunak besuchte das Eliteinternat Winchester und studierte in Oxford und Stanford. Bevor er in die Politik ging und 2015 erstmals ins Unterhaus gewählt wurde, arbeitete er als Investmentbanker bei Goldman Sachs. Er ist seit 2009 mit Akshata Murty verheiratet, der Tochter des Gründers der Softwarefirma Infosys; durch diese Ehe wurde Sunak Milliardär. Er ist der erste Hindu sowie der erste Nachfahre von Bewohnern ehemaliger Kolonien im Amt des britischen Premierministers, die Nummer 79 seit 1721.
Das Jahr 1888 wurde mit Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. zum Drei-Kaiser-Jahr des Deutschen Reiches; das Jahr 1978 mit Paul VI., Johannes Paul I. und Johannes Paul II. zum Drei-Päpste-Jahr der Katholischen Kirche. Das laufende Jahr 2022 mit Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak kann in dieser Reihung als Drei-Premierminister-Jahr des Vereinigten Königreiches bezeichnet werden, überdies erlebten die Briten noch die Thronbesteigung des ewigen Prinzen Charles III. mit 74 Jahren. Ob sich 2022 für die seit 2010 regierenden Tories als Jahr der Stabilisierung oder aber des beschleunigten Niedergangs erweisen wird, ist gegenwärtig Spekulation; Umfragen sehen jedenfalls die oppositionelle Labour Party deutlich vorn.
Großbritannien laboriert überdeutlich an den Folgen des Brexit. 2016 per Referendum beschlossen und seit 2020 amtlich vollzogen, hat das Land die Europäische Union, der es 1973 ebenfalls nach einer Volksabstimmung beigetreten war, verlassen. Dem Land fehlen seitdem in vielen Branchen Fachkräfte, die illegalen Grenzübertritte sind nicht weniger geworden, Zölle erschweren und verteuern den Handel mit den ehemaligen Partnerländern, der befriedet geglaubte Konflikt um Nordirland bricht wieder auf, viele globale Konzerne verlagern ihre europäischen Zentralen von der Insel auf den Kontinent, eine Rezession zwingt jede Regierung zum Sparen, nicht zuletzt wird das Land kulturell und akademisch von der Plage der Cancel Culture gelähmt. Rishi Sunak, der noch im Sommer aktiv am Sturz Boris Johnsons beteiligt war, ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden.
Der schlanke Mann mit den eng geschnittenen dunklen Anzügen und erstem Grau im vollen Schopf variiert die typische Geschichte der Konservativen Partei, die Leistung, Mühen und Verantwortung des Einzelnen predigt und den Staat in seine Schranken weisen möchte. Seine finanzielle Unabhängigkeit macht ihn uninteressant für Bestechungsversuche, seine Herkunft aus einer indischen Familie hingegen zu einer Starbesetzung des Amtes in Downing Street, wo er auch privat wohnen will. Er wird dem Vernehmen nach an der Politik der Sanktionen gegen Russland ebenso festhalten wie am restriktiven Kurs gegen illegale Migration. Die Amfortas-Frage bleibt, ob er den Brexit fortschreibt oder das Volk dazu erneut befragt.
Rishi Sunak kommt in einer Zeit an die Macht, in der Großbritannien von einer aggressiven Debatte um die koloniale Vergangenheit des Empire erschüttert wird. Alte Hymnen wie Land of Hope and Glory oder Rule Britannia geraten auf den Index, Statuen nicht nur von Cecil Rhodes, sondern auch von Winston Churchill werden geschleift, Aktivisten, Literaten und Wissenschaftler arbeiten an einer ideellen Gesamtrechnung der Sklaverei, der Ausbeutung und des Imperialismus, in den großen Städten existieren derweil finstere Parallelgesellschaften muslimischer Zuwanderer. Es ist unverkennbar, dass das United Kingdom den Zerfall des britischen Weltreiches noch immer nicht verwunden hat und als kupierter Staat seinen Platz in einer multipolaren Welt zwischen China, Russland, dem Commonwealth, der EU und den USA sucht. Dass nun ausgerechnet ein Mann mit indischen Wurzeln am Steuer des stolzen Staatsschiffs steht, entbehrt nicht einer gehörigen Ironie.