Superfinal

Sicher, online Schach zu spielen hat eine Menge für sich in der aktuellen Situation des globalen Eingesperrtseins. Während die meisten Sportarten, ob professionell oder amateurhaft, seit Monaten entweder komplett verboten sind oder lediglich unter Ausschluss des Publikums stattfinden können, reicht beim Schach eine stabile Internetverbindung und die Partie beginnt im Browser, egal wo die beiden Spieler (m/w/d) gerade sich aufhalten. Damit behelfen sich nicht nur die zahllosen Clubspieler und Kaffeehauszocker, deren Training bis auf weiteres ausfällt, auch gut dotierte Turniere mit Beteiligung der besten Spieler der Welt werden organisiert und unter reger Teilnahme der Kiebitze durchgeführt.

Und doch verhält sich die Partie am Bildschirm zur Partie am Brett wie der Ersatzstoff zur Droge oder wie das Spinningrad zum Alpenpass. Man spielt allen Beteuerungen eben doch nicht allein gegen Figuren, sondern auch gegen einen Gegner. Aus seiner Mimik und Gestik zieht man unwillkürlich Schlüsse ob seiner Gedanken und Gefühle, sein verzweifeltes Antlitz nimmt die Aufgabe der Partie vorweg, das Klacken der Steine auf dem Holzbrett und das Ticken der Uhr gehören zum Rhythmus einer Partie. Der wahre Schachspieler braucht die Figuren unter seinen Fingern wie der Pianist die weißen und die schwarzen Tasten. Ungelöst beim Online-Schach ist nach wie vor das Thema des digitalen Betrugs; es ist schlicht nicht nachzuprüfen, ob nicht ein Algorithmus für die tiefe Strategie des Gegenübers verantwortlich ist.

In Moskau nun erfährt die Turnierdürre der letzten neun Monate eine adventliche Pause. Noch bis Mitte Dezember sitzen die besten Schachspielerinnen und -spieler des Landes am realen Tisch sich gegenüber und spielen unter dem Titel „Superfinal“ ihre Meisterin respektive ihren Meister aus. Ort dieser seltenen Veranstaltung ist der prächtige Spielsaal des zentralen Schachclubs der russischen Hauptstadt, die Kiebitze weltweit können unter ruchess.ru oder chess24.com die Partien verfolgen und sich dabei auf Russisch oder auf Englisch die Züge kommentieren lassen. So lernen sie nicht nur die Finessen der Eröffnungen und die Subtilitäten des Endspiels, sondern trainieren en passant auch ihre Kenntnisse dieser beiden Weltsprachen des Schachs.

Im Januar dieses Jahres fand das letzte WM-Match der Damen in Wladiwostok statt, die seinerzeit knapp unterlegene Alexandra Gorjachkina spielt nun in Moskau um den Titel der Landesmeisterin mit. Im März dieses Jahres, inmitten der ersten Welle der Pandemie, wurde das Kandidatenturnier der Herren in Jekaterinburg zur Ermittlung des nächsten Herausforderers des Weltmeisters zur Halbzeit unterbrochen; Ian Nepomniachtchi, der zu diesem Zeitpunkt in Führung lag, spielt derzeit auch in Moskau groß auf. Eigentlich hätte über Weihnachten 2020 Weltmeister Magnus Carlsen seinen Titel verteidigen sollen; wie so viele sportliche Wettkämpfe ist auch dieser ins Unbestimmte verschoben. Die Schachmagazine wissen langsam nicht mehr, wie sie ihre Seiten füllen sollen.

Im zentralen Schachclub in Moskau werden, wie die Kameras dokumentieren, alle einschlägigen Hygienevorschriften eingehalten. Die Spieltische stehen weit entfernt voneinander, die Spieler am Brett sind durch eine Scheibe aus Plexiglas getrennt, sie machen die Züge auf dem Brett durch eine Art Durchreiche; wenn sie vom Tisch aufstehen, müssen sie eine textile Atemhemmung tragen. Zuschauer sind vor Ort nicht zugelassen, die Schiedsrichter halten den Mindestabstand ein. Post-mortem-Analysen fallen knapp aus, die Interviews werden auf Distanz gegeben. Und doch wirkt die Atmosphäre vom heimischen Monitor aus keineswegs klinisch, im Gegenteil, die für ein Schachturnier typische knisternde Spannung bei kontemplativer Ruhe ist mit Händen zu greifen.

Die russische respektive früher sowjetische Landesmeisterschaft gilt nicht umsonst als eines der am besten besetzten Turniere des Zyklus, kommen doch die stärksten Spielerinnen und Spieler wie ehedem aus der Sowjetunion weiterhin aus der Russischen Föderation, wie sich an ihren Positionen in der Weltrangliste und den Medaillen bei den Schacholympiaden ablesen lässt. Dementsprechend hoch ist das Niveau der Partien beim Superfinal. Ian Nepomniachtchi besiegte den Vize-Weltmeister von 2016, Sergey Karjakin, in überzeugender Weise, bei den Frauen liegt Polina Shuwalowa mit 6,5 Punkten aus 7 Partien deutlich vorn. Lange Partien am realen Brett sind doch ein Genuss anderer Qualität als Schnellschachpartien im Netz, das gilt für Profis wie für Patzer.

Für die Schachfans daheim, die im Heimbüro geschädigt sind durch Skype, Zoom und WebEx, ist es eine Wohltat, echte Menschen und keine Avatare in Interaktion zu sehen. Die Spielerinnen und Spieler bekunden in Interviews, wie sehr ihnen die Begegnungen mit lebenden Opponenten gefehlt haben – die Teilnahme am Superfinal avanciert für sie dergestalt zur Depressionsprophylaxe in Zeiten der Pandemie. Und das anonyme Publikum wird nicht nur erstklassig unterhalten und unterrichtet, es kann sich auch eine Realität jenseits der zweidimensionalen Welt der Monitore in ihrem fahlen Licht vorstellen, wo Kontakte nicht per se unter den Verdacht der Infektion gestellt werden. Schachhändler melden jedenfalls, dass in den zurückliegenden Monaten der Absatz von Holzbrettern und Figurensätzen deutlich angezogen habe.

Schach wird ja gemeinhin als Kombination aus Kunst, Wissenschaft und Sport beschrieben. Keine dieser elementaren Dimensionen kann vollends auf die Haptik verzichten, es braucht für künstlerische wie wissenschaftliche und sportliche Leistungen ein gesundes Miteinander von Leib und Seele (oder Körper und Geist). Um das Auge ebenso wenig wie das Hirn beim Denken zu stören, sind die Farben von Brett und Figuren harmonisch aufeinander abgestimmt; ebenso das Verhältnis ihrer Größe – die optimale Höhe des Turms entspricht der Länge eines Feldes. Die segensreiche Wirkung des Moskauer Superfinals liegt nicht nur im schachlichen Sinn bei guten Zügen und gewonnenen Stellungen, sondern in der Verheißung einer Normalität abseits des Virus. Das Superfinal öffnet ein Fenster in diese Richtung, durch das die frische Luft eines kalten russischen Wintertages hineinweht. Klar, sauber, mit dem Geruch nach Schnee.