Tafel

Die Geschichte beginnt mit einem Etikettenschwindel. Die „Tafel“, entlehnt aus dem früh-romanischen tavola (italienisch) resp. table (französisch), ist ein Tisch, an dem gegessen oder eben getafelt wird – allerdings im gehobenen Ambiente des Banketts und des Diners, mit gestärkten Servietten und kostbarem Service, wie der Dornseiff aufklärt. Wenn heute im kulinarischen Zusammenhang von der „Tafel“ die Rede ist, dann verschleiernd von der Suppenküche und der Armenspeisung.

Seit über 25 Jahren werden in Deutschland Lebensmittel, die im Supermarkt nicht mehr verkäuflich sind (Mindesthaltbarkeitsdatum beim Joghurt erreicht, braune Flecken an der Banane, Brot vom Vortag, Mohrrübe krumm), gesammelt und fast gratis an hungrige Menschen ausgegeben, statt sie auf den Müll zu werfen. Die Tafeln sind private Initiativen, deren Mitglieder ehrenamtlich einem caritativen zivilgesellschaftlichen Engagement nachgehen; bundesweit stehen Hunderttausende Menschen verschämt um Nahrung an. Diese müssen sich legitimieren (etwa über den Bescheid zum Bezug von AlGe II oder Wohngeld) und dürfen auf eine „Ergänzungsversorgung“ hoffen.

Die Politik hält sich aus dieser Schattenwirtschaft heraus, solange das Elend nicht zu sehen, zu hören und zu riechen ist. Als nun im Februar die Tafel der Stadt Essen mitteilte, bis auf Weiteres nur noch Deutsche neu aufzunehmen, war die Empörung wohlfeil: Eifrige Repräsentantinnen aus SPD und CDU warnten pflichtschuldig vor Rassismus, Ausgrenzung und Konkurrenz und dozierten herablassend, dass allein die Bedürftigkeit der als „Kunden“ Verbrämten Maßstab des Zugangs zu quasi kostenlosen Lebensmitteln sein dürfe. Die Funktionärinnen kamen selbstredend nicht auf die Idee, einmal mit den Betreibern oder Gästen der Essener Tafel ins Gespräch zu kommen und sich deren Vorgehen erklären zu lassen.

Der Vorstand der Essener Tafel, ein eingetragener Verein ohne jede öffentliche Förderung, begründete sein zeitlich befristetes Handeln damit, dass mittlerweile unter den rund 6.000 regelmäßig um Lebensmittel Anstehenden 75 % junge aggressive Männer aus dem Ausland („Flüchtlinge“) seien, die arme Rentner und Alleinerziehende schlicht verdrängten, sodass es nicht länger für alle reiche. Mithin ist also der Wettbewerb um Sozialleistungen am unteren Rande der Gesellschaft eskaliert. Wer wachen Geistes ist, mag hier einen kausalen Zusammenhang zur halsbrecherischen deutschen Flüchtlingspolitik der Jahre 2015/16 erkennen.

Seit ihrem Bestehen wird der „Tafel“-Bewegung vorgehalten, die Versäumnisse des Sozialstaates zu kitten und diesen aus der Verantwortung für die Schwächsten zu entlassen. Es fehlt vonseiten der Regierung nicht an wüsten Beschimpfungen der Bezieher von Transferleistungen als faul, bequem und verschlagen (besonders widerlich der ehemalige Außenminister und der neue Gesundheitsminister). Dabei verschwimmen „die Armen“ zu einer gesichtslosen Masse, mit deren realen Lebensbedingungen weder die Medien noch die Politik sich beschäftigen wollen – Armut ist nicht sexy, hat mit Dreck, Verwahrlosung, Unfreiheit und Krankheit zu tun und gehört bestenfalls ausgelagert in sozialwissenschaftliche Studien. Dabei ist es gesichertes Wissen der Public-Health-Forschung, dass ein Leben in Armut die Lebenserwartung um acht Jahre bei Frauen und gar elf Jahre bei Männern senkt.

All das ficht die Ministerinnen und Staatssekretärinnen der wer weiß wievielten Großen Koalition nicht weiter an. Das in die Formel Hartz IV gegossene „rigide Armutsregime“ (so der Politologe Christoph Butterwegge) soll keineswegs grundlegend reformiert oder auch nur kosmetisch gedreht werden; vor allem zeigen die politisch Verantwortlichen traditionell seit Jahrzehnten keinerlei Bereitschaft, an der extrem asozialen Ungleichverteilung materiellen wie monetären Reichtums in der Bundesrepublik gesetzlich etwas zu ändern, auch wenn die Mehrheiten im Deutschen Bundestag dafür vorhanden wären.

Solange die aktuelle Regierung sich um die harten Verteilungsfragen drückt und sich stattdessen in Bespaßung der hedonistisch-urbanen Mittelschicht ergeht, werden die Kämpfe um Wohnraum, Arbeit, medizinische Versorgung und kulturelle Teilhabe im Prekariat schwären und dabei in der Berliner Blase der Empfänge, Limousinen, Teppiche und Grußworte unbemerkt bleiben. Allerdings sollten die Parteistrategen nicht auf die bislang stabile Wahlabstinenz der Armen und Ausgegrenzten setzen: Der Einzug der AfD in die Parlamente geht auch auf eine geschickte Mobilisierung des Milieus der (einstigen) Nichtwähler zurück.

Ein Blick ins Ausland könnte lehrreich sein. In Finnland es der Regierung gelungen, die Straßenobdachlosigkeit zum Verschwinden zu bringen. Auf diesen bemerkenswerten Erfolg angesprochen, gab der Koordinator des Programmes an, dahinter stecke die finnische Überzeugung, dass es auf jeden einzelnen Menschen ankomme, dass niemand zurückgelassen werden dürfte. Eine solch fürsorgliche wie respektvolle Haltung ist in Deutschland völlig undenkbar; hier betrachtet man die Bürger als Konsumenten, die so lange willkommen sind, wie sie ihre Rechnungen bezahlen können. Danach stößt man die Schwankenden, getreu nach Friedrich Nietzsche, in die Gosse. Gegebenenfalls finden die Gefallenen danach den Weg zur wachsenden Schlange des Nachtasyls.