Arbeit in der UdSSR ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! – Josef Stalin
Kein Land der Erde verfügt über solch gewaltige Vorräte an Bodenschätzen wie Russland respektive die UdSSR. Das heutige Russland treibt seine Wirtschaft wesentlich mit der Förderung von Öl und Gas auf den sibirischen Feldern voran. Schon der Dynastie der Romanows unter Peter I. und Katharina II. war der Reichtum im Permafrost des Landes bewusst, doch zuckten sie davor zurück, die Kohleflöze bei Workuta, die Nickelfelder bei Norilsk und die Goldminen an der Kolyma zu erschließen und auszubeuten. Zu diesem grausamen Schritt entschloss sich erst Josef Stalin, der gemäß des ersten Fünf-Jahres-Plans die junge UdSSR ab 1928 auf den Weg vom Agrarstaat zur Industrienation peitschte. Die für diesen Gewaltakt benötigten Arbeitskräfte akquirierte der Diktator unter den Kriminellen, den vom Land vertriebenen Bauern und den zahllosen vermeintlichen oder tatsächlichen Oppositionellen. In seinen Erzählungen unter dem Titel „Taiga“ berichtet Sergej Maximow von seinem Leiden als Sklave im Gulag.
Sergej Maximow (eigentlich Paschin) wurde 1916 in einem kleinen Dorf an der Wolga geboren. 1920 zog die Familie nach Moskau, 1934 machte Sergej hier seinen Schulabschluss. Er arbeitete als literarischer Mitarbeiter einer Gewerkschaftszeitung und begann ein Studium der Kunst. 1936 wurde er aufgrund einer leichtfertigen Äußerung unter Studenten angeklagt und nach wochenlangen Verhören in der Ljubjanka nach dem berüchtigten § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches wegen „Agitation“ zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Diese verbrachte er in der ASSR Komi am Nordwesthang des Ural, er arbeitete hauptsächlich im Eisenbahn- und Brückenbau. Nach der Entlassung 1941 geriet er in die Fänge der deutschen Besatzer, die ihn als Übersetzer engagierten.
Nach dem Ende des II. Weltkriegs 1945 flohen Sergej und sein Bruder Nicolai aus Angst vor der Repatriierung in die UdSSR, die den sicheren Tod bedeutet hätte, zunächst nach Hamburg und dann nach New York. Hier veröffentlichte Sergej Maximow 1952 seine autobiographisch gefärbten Erzählungen aus dem Gulag unter dem Titel „Taiga“ in einem russischen Emigrantenverlag. Seine Theaterstücke und Romane blieben weitgehend unbeachtet. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in bitterer Armut und Einsamkeit, er war alkoholkrank und zeitweilig obdachlos. Sergej Maximow starb 1967 in New York. Seine Erzählungen über den Gulag erschienen in Russland erstmals 2016, seit 2020 liegen sie auf Deutsch vor.
Die Taiga ist eine Vegetationsform, wie sie typisch ist für den kalten russischen Norden. Endlose Wälder aus Kiefern und Lärchen voller Schnee, regelmäßig durchsetzt mit großen Sümpfen, erstrecken sich über tausende von Quadratkilometern, bevor sie jenseits des Polarkreises übergehen in die Tundra, die offene Eissteppe. Es gibt in der Taiga keine Städte, keine festen Straßen und keine Eisenbahn, in den weit auseinander liegenden Dörfern leben die Syrjänen, die ihr Dasein mit der Jagd und der Rentierzucht fristen. Die Taiga ist ein solch unwirtliches gottverlassenes Territorium, dass es der Lagerleitung überflüssig erscheint, die Häftlinge besonders zu überwachen – jede Flucht muss zwangsläufig im Frost der Wurzeln oder im Matsch der Sümpfe enden. Wer dennoch einen Fluchtversuch riskiert, muss mit der Kollaboration der Syrjänen rechnen, die die Entlaufenen gegen Prämien verraten. Zurück im Lager erwartet die Entwichenen der Strafisolator, der die meisten binnen Wochen umbringt.
Sergej Maximow wird am Strom Petschora inhaftiert, er und seine Mithäftlinge arbeiten am Bau einer Eisenbahnlinie, die das riesige Kohlerevier um Workuta mit dem Inneren Russlands verbinden soll. Als politischer Häftling, als sogenannter Volksfeind, rangiert Maximow in der Lagerhierarchie ganz unten. Er muss die schweren Arbeiten an der Schubkarre beim Erdaushub oder am Meißel zum Steinebrechen übernehmen; er bekommt nur die Reste des ohnehin kargen Essens aus dünner Suppe, pappigem Brot und magerem Dorsch; die stupiden Wachleute lassen ihren Sadismus bevorzugt an den jungen Gebildeten aus. Den Mördern, Dieben und Vergewaltigern geht es im Lager halbwegs gut: „Ein interessantes Volk, diese Gauner. Sie sind die Einzigen unter den Häftlingen, die im Lager ungefähr dieselbe Lebensweise beibehalten wie in der Freiheit.“ Diese Berufsverbrecher weigern sich zu arbeiten, spielen Karten, setzen das medizinische Personal unter Druck und kooperieren mit den Wächtern um die Aufsicht im Lager.
Nach offizieller Lesart ist Maximow in einem Arbeitsbesserungslager interniert. Hier sollen er und die anderen Politischen, die als „Volksfeinde“ gelten, durch die Arbeit zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft „umgeschmiedet“ werden, so die Ideologie der kommunistischen Partei. So gibt es allen Ernstes im Lager die Position der Erzieher, um mittels Losungen und Kontrollgängen den Prozess der Läuterung durch Arbeit zu überwachen. Maximows eigenes Schicksal entlarvt dieses Konstrukt als Lüge. Als er nach der Verbüßung seiner Strafe 1941 Arbeit sucht, wird er von jeder Stelle abgewiesen, sobald der Grund seiner Haft ruchbar wird, egal, ob er als Nachtwächter, Reporter, Zeichner oder Lehrer arbeiten will. Der Stempel „P“ im Ausweis weist ihn über das Lager hinaus als permanenten „Volksfeind“ aus, von einem Neuanfang nach der Strafe kann keine Rede sein – im Paradies der Werktätigen bleibt er ein Aussätziger. Das sollte sich erst nach Josef Stalins Tod 1953 ändern, als Millionen politischer Häftlinge freikamen und rehabilitiert wurden.
Die Tragik des Schriftstellers Sergej Maximow liegt darin, dass er seine Erzählungen aus dem Gulag vor der Zeit publizierte. Als „Taiga“ 1952 veröffentlicht wurde, war Josef Stalin noch am Leben, der Terror des Gulag war bittere Gegenwart für die Menschen der Sowjetunion. Der Autor Maximow wurde in seiner Heimat nicht zur Kenntnis genommen, die kleine Emigrantenszene in den USA hatte nicht die Möglichkeit, die Diskussion in der UdSSR zu beeinflussen. Als dann 1962 mit ausdrücklicher Billigung Nikita Chruschtschows der Roman „Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch“ von Alexander Solschenizyn erschien, begann die zaghafte literarische Auseinandersetzung mit dem Großen Terror der Jahre 1936/38 und dem Straflagersystem, das die Sowjetunion wie ein Netz überzog. Im Samisdat kursierten Texte von Jewgenia Ginsburg und Warlam Schalamow über die Kolyma, Sergej Maximow versank in der Namenlosigkeit.
Der junge Maximow versucht instinktiv, in der Hölle des Gulag zu überleben. Seine Verhaftung durch den NKWD, die Verhöre und der Prozess kommen ihm wie eine Farce vor, er ist sich keiner Schuld in Richtung Konterrevolution bewusst. Das muss er auch nicht, richtet sich der Große Terror doch willkürlich gegen Alle; es geht im Kern darum, Quoten an Häftlingen zu erfüllen und das ganze Land in Schrecken und Lähmung zu versetzen. Unter den Schergen des Geheimdienstes setzt ein perverses Rennen ein, wer mehr Menschen zum Tode durch Erschießen oder zur Deportation in den Gulag liefert – Beweise oder Indizien sind nicht erforderlich, Zeugen werden erpresst, Geständnisse sind das Ergebnis der Folter, Staatsanwälte sprechen gleichzeitig das Urteil, ein Anwalt für die Angeklagten ist nicht vorgesehen. Diese Umwertung aller Werte der Gerechtigkeit, die das ganze Volk der UdSSR zu Spitzeln, Häschern und Opfern zugleich macht, findet Maximow im Lager in nuce wieder: „Man kann nicht ein ganzes Land einsperren, aber man kann ein ganzes Land in ein Gefängnis verwandeln. Und das hat Stalin getan.“
In diesem Gefängnis unter dem schwarzen Himmel der Taiga verhält sich Maximow taktisch, um nicht wie ein geschundener Gaul zu krepieren. Ihm ist klar, dass der Gulag eine Fortsetzung der zaristischen Katorga unter anderem Namen ist, wo das Leben des Einzelnen keinerlei Wert hat und jede Stunde ausgelöscht werden kann. Er erlebt, dass sich ein Häftling die Hand abhackt, um endlich der übermenschlichen Qual der Zwangsarbeit zu entgehen. Er unterhält die Kriminellen mit literarischen Geschichten, um von ihnen protegiert zu werden; er ahnt, dass die zusätzlichen Rationen, mit denen sie ihn nach langem Hungern aufpäppeln, anderen Insassen gestohlen wurden. Er meldet sich als Ofensetzer, obwohl er keine Ahnung von diesem Handwerk hat, nur um ein paar Tage keine Karre voller nasser Erde schieben zu müssen. Er gibt sich als Schauspieler aus, um Aufnahme in eine Kulturbrigade zu finden, die mit ihren Theateraufführungen die Lagerleitung bei Laune halten soll. Er lässt sich von Verbrechern bestechen, um seinen ruhigen Posten als Nachtwächter des Leichenhauses auch nur für einen Tag länger zu behalten. Und er hat schieres Glück, dass er in eine Delegation von Geologen aufgenommen wird, die fernab des Lagers Gesteinsproben nimmt, um die Fortführung der Trasse nach Workuta zu planen.
„Taiga“ schließt in mehrfacher Hinsicht an den Urtext der russischen Lagerliteratur, die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ von Fedor Dostojewski von 1860/61, an. Der Ich-Erzähler ist ein im Grunde unpolitischer Angehöriger der Intelligenzija, der in die Fänge der Geheimpolizei gerät; im Lager sind die elenden Gangster die eigentlichen Herrscher; die Zwangsarbeit dient nur dazu, die Häftlinge wie Halme zu knicken, ihr Sterben ist angesichts der katastrophalen hygienischen Bedingungen eingepreist; eine besondere Pein bereitet das Fehlen jeglicher Privatsphäre; die Abwesenheit aller Art von Kultur beschleunigt die Vertierung der Eingesperrten; die Hoffnung auf Wiedererlangung der Freiheit lässt die Gefangenen die schlimmsten Demütigungen ertragen; die Parole der Besserung der Häftlinge durch Arbeit ist eine Chimäre; die Frage nach persönlicher Schuld geht ins Leere, sämtliche Maßstäbe der Ethik sind aufgehoben. Und hier wie da werden immer wieder romantische Schilderungen der unberührten Natur eingeflochten, die die Sinne überwältigt und sich angesichts der menschlichen Torheiten unbeeindruckt zeigt.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Erzähler der „Taiga“ den weiblichen Häftlingen, die rund um die Uhr den Nachstellungen der Männer ausgesetzt sind. Einige nehmen einen Banditen als Beschützer und sind ihm dafür zu Diensten, andere versuchen alle Häftlinge auf Abstand zu halten, wieder andere werden regelrecht geil und bedrängen die jungen Wachsoldaten obszön. Die Anwesenheit auch nur einer Frau in einer Gruppe männlicher Gefangener reicht aus, diese zu rezivilisieren. Sie rasieren sich die Bärte ab, sie stoppen die Flüche, sie geben ihre Jacken als zusätzliche Decken her, sie werden wieder kleine Jungen mit dem Wunsch nach Liebe. Und sie werden Kavaliere der ernsten Art. Als ein Verbrecher eine junge Frau entgegen des Kodex vergewaltigt, wird er von einem Politischen ohne Umschweife mit den bloßen Händen erwürgt, ohne dass auch nur ein Mann einschritte. Die Erzählungen aus der „Taiga“ legen Zeugnis ab von der Gesetzlosigkeit des Gulag. Der Autor tut das in einer einfachen Sprache voller Lakonik, in der Dialoge dominieren. Die Kette der Erzählungen verhindert, dass beim Lesen des Buches eine Gewöhnung an den Horror einträte, wie es bei einem Roman der Fall wäre; jede kurze Geschichte ist ein weiterer Hieb auf die Kniescheibe. Auch im Russland der Gegenwart gibt es Straflager; wie es dort zugeht, können nur die Davongekommenen mitteilen. Wenn sie denn darüber schreiben.