In der Geschichte des Schachspiels wurden etliche Spielerinnen und Spieler geachtet, verehrt und gefürchtet. Aber grenzenlos geliebt wurde nur Mikhail Tal, der „Zauberer aus Riga“, der 1960 in einem furiosen Match in Moskau den Titel des Schachweltmeisters eroberte, diesen aber nur für ein gutes Jahr behalten sollte.
Mikhail Tal wurde 1936 im lettischen Riga als Sohn eines stadtbekannten Arztes geboren. Er lernte mit drei Jahren lesen, konnte mit fünf Jahren dreistellige Zahlen im Kopf multiplizieren, hatte das absolute musikalische Gehör und spielte trotz einer vorgeburtlich verkrüppelten rechten Hand passabel Klavier. Mit dem Virus des Schachspiels infizierte er sich mit sieben Jahren und verfügte bereits in der Jugend über eine beachtliche Spielstärke; hier begann die lebenslange Arbeit mit seinem Trainer Alexander Koblents, die seinen kometenhaften Aufstieg begründen sollte. Nachdem er aufgrund seiner Frühreife zur Einschulung gleich zwei Klassen übersprungen hatte, machte er mit 17 Jahren sein Abitur und studierte Russische Literatur an der Universität Riga. Als er mit 21 Jahren sein Examen ablegte, zählte er bereits zur Elite der sowjetischen Schachspieler. Er unterrichtete ein Jahr als Lehrer an einem Gymnasium, gab den Beruf aber auf, da er sich nicht mit den häufigen Reisen eines Schachprofis zu Turnieren vertrug.
1958/59 gewann er die Meisterschaft der UdSSR, das Interzonenturnier und das Kandidatenturnier, um 1960 im Handstreich den amtierenden Weltmeister Mikhail Botwinnik vom Thron zu stoßen. Während Botwinnik, ein Elektroingenieur und linientreuer Stalinist, fest an die Elemente der Strenge, der Logik, der Vorbereitung und der Wissenschaft im Schach glaubte (und in späteren Jahren, noch vor der Computer-Ära, an einem perfekten Programm zum Berechnen des einen besten Zugs in gegebener Stellung arbeitete), agierte Tal risikofreudig und spektakulär wie ein Zocker. Er strebte stets nach Initiative, schätzte seine Chancen notorisch optimistisch ein, spürte die verborgene Dynamik der Partie und opferte Bauern und Figuren leichter Hand aus heiterem Himmel. Das psychologische Moment der Überraschung verfehlte am Brett seine Wirkung selten; seine Gegner fanden unter Zeitdruck in rechenintensiven taktischen Positionen oft nicht die korrekte Antwort und standen rasch auf Verlust.
Diese romantische – in den Worten eines Kritikers: prälogische – Art zu spielen, gepaart mit einem humorvollen, unprätentiösen Wesen, begeisterte die Schachfans über die Nationen und Generationen hinweg. Mochten Tals Kombinationen in der Post-mortem-Analyse sich als löchrig erweisen, wurden sie in der konkreten Situation selten widerlegt. Dass der „Zauberer aus Riga“ nach nur einem Jahr seinen Weltmeistertitel wieder verlor, hat vor allem mit chronischen gesundheitlichen Problemen zu tun. Tal wurde mehrfach an den Nieren operiert, er litt anfallsweise unter starken Schmerzen, was sein Spielniveau heftig schwanken ließ. Dass er rauchte wie ein Schlot, viel zu viel Alkohol trank und zeitweilig morphiumsüchtig war, machte die Sache nicht besser. In den 1970er Jahren, als er längst begonnen hatte, auch die strategischen Gesetze des Schachs zu befolgen, blieb er 93 Turnierpartien in Folge unbesiegt; ein bis heute gültiger Rekord. Trotz mehrerer Anläufe blieb ihm ein erneuter Kampf um die Schachkrone verwehrt, er arbeitete in seinen späten Jahren vermehrt als Sekundant, Redakteur und Kommentator.
Zudem stand er unter besonderer Beobachtung der sowjetischen Behörden, die dem zum dritten Mal verheirateten Tal Turnierreisen ins westliche Ausland erschwerten. Nach der Epochenwende 1989/91 lebte er bei Köln und spielte, bereits arg geschwächt, in der deutschen Bundesliga. Ausgemergelt und vor der Zeit gealtert, starb er 1992 in einem Moskauer Krankenhaus an Nierenversagen, er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Riga begraben; das Ende der Sowjetunion 1991 und damit die Unabhängigkeit seines Heimatlandes Lettland hat er noch erlebt. Wer heute die Partien Mikhail Tals nachspielt, wird sich ihrer irrationalen Schönheit kaum entziehen können; unverdunkelt funkelt sein Stern am Firmament des Schachs.
Dieser Liebling Caissas war nicht nur mit einer phänomenalen Intuition für das Spiel gesegnet, er konnte seinen Geist auch in attraktive Worte kleiden: „Was tun, wenn man gewinnen muss? Versuchen, matt zu setzen? Aber der Gegner erkennt den Angriff schon im Ansatz und wird alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Positionelle Schwächen ausnutzen? Der Kontrahent denkt gar nicht daran, welche zuzulassen! Deshalb verlassen die Spieler heutzutage nicht selten das bekannte Terrain und begeben sich in den dunklen Wald unerforschter Varianten auf einen engen und dornenreichen Pfad, auf dem nur Platz für einen ist. Sehr viele beherrschen jetzt nicht nur das Einmaleins, sondern auch den schachlichen Logarithmus. Um zum Erfolg zu kommen, muss man deshalb mitunter beweisen, dass zwei mal zwei fünf ist.“ In der Konsequenz spielte Mikhail Tal ein Schach zwischen Poesie und Anarchie, bis heute unverwechselbar.