Kerstin liebt den Winter. In den dunklen Monaten fühlt sie sich geborgen, das Leben findet im Probemodus der Fantasie statt, sie ist aufmerksam und schöpferisch wie selten. Wenn es beim Weckerklingeln draußen noch tiefschwarz ist, bleibt der Schutz von Schlaf und Traum bis weit in den Morgen erhalten, auch kommt er zeitig zurück, noch bevor der Nachmittag in den Abend übergeht. Doch ist es ein unabänderliches Gesetz, dass das Licht jeden Tag um ein paar Minuten zurückflutet, die Sonne steht mit jedem neuen Tag nicht nur etwas länger, sondern auch höher am Himmel. Der Vorhang der Wolken lässt immer mehr blendende Strahlen durch, der Frühling mit seinem Aufbruch droht, und es gibt keine Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Nicht nur weil die wachsende Helligkeit ihre Migräneattacken begünstigt, nimmt ihre seelische Unruhe zu.
Auch die letzten Sterne und Lichterketten in den Fenstern der Wohnungen sind fort, die Krippen in den Kirchen schon lange abgebaut, am Straßenrand schimmeln noch vergessene Tannenbäume. Der Zauber des Stillstands der Raunächte zwischen Weihnachten und Epiphanie ist längst aufgebraucht, die Innigkeit der Feiertage und der Überschwang von Silvester sind schon vor Wochen dem üblichen Missmut der Konkurrenz gewichen. Kerstin stemmt sich instinktiv gegen das Verstreichen der Zeit, sie zündet weiter ihre Bienenwachskerzen an, dreht kontemplativ ihre Sanduhr um und erfreut sich am süßen Duft der Räucherstäbchen. Sie ist gern daheim, wo das Leben keine Gefahr darstellt. Die langen Abende verbringt sie in Gesellschaft von Büchern, deren Schweigen sie hegend in die Gnade der Nacht geleitet.
Kerstin freut sich, wenn sie in ihre schweren Bergstiefel steigt, die ihr am Fels, im Wald und auf dem vermatschten Pflaster der Stadt gute Dienste leisten. Der Griff zu Schal und Handschuh beim Verlassen des Hauses geschieht längst routiniert, beim Radfahren hat sie die Radwege meist für sich allein. Und die Menschen um sie herum sind ebenso fest eingepackt in ihre Wintergarderobe, die mehr von Funktionalität und weniger von Mode geprägt ist; sie tragen knielange Mäntel in Schlafsackoptik und in fahlen Tönen, ihre Köpfe verschwinden unter zeltgroßen Kapuzen, die Silhouetten ihrer Körper sind nur zu erahnen unter den mehrfachen Lagen wärmenden wie vermummenden Textils. Jeder (m/w/d) friert für sich allein, niemand stellt eine Verführung dar.
Im Frühling wird sie sich dann hilflos fühlen, wenn die Temperaturen schon zur Tag- und Nachtgleiche in die Höhe springen, das Licht gleißt, an jeder dritten Ecke die Straßencafés voll besetzt sind und die Menschen zärtelnd und flirtend und wie erlöst im Freien feiern. Inmitten der jungen, schönen und gesunden Männer und Frauen kommt sie sich wie Tantalos vor, der bis zum Hals im Wasser steht und quälenden Durst leidet. Doch sobald er den Kopf senkt, um zu trinken, verrinnt das Wasser mit einem Schlag. Unmittelbar in Reichweite neigen sich Äste mit köstlichen Trauben, Feigen, Äpfeln und Birnen, doch sobald er die Hand nach ihnen ausstreckt, werden die Früchte von einem Windstoß weggeweht. (Odyssee, XI, 582–592) Die perfide Pein liegt in der lockenden Gegenwart der nicht für Kerstin bestimmten Genüsse.
Sie weiß nicht, für welches Vergehen das Gericht des Lebens sie so grausam straft wie Tantalos aus der griechischen Mythologie. Sie hat sich ihre Geschlechtslosigkeit nicht erwählt, sie ist ausgebrochen wie bei anderen eine Psychose oder eine Multiple Sklerose. Jeder offene Frühling ist für sie aufs Neue eine Widerlegung ihrer mangelhaften Existenz. Sie ist umgeben von makellosen Leibern, halb nackt und für die Liebe geschaffen, deren Vollzug in der Öffentlichkeit einem Akt des Triumphes über die Schatten gleichkommt. Wenn Kerstin in der Sonne am Seeufer entlangspaziert, weil auch ihr Herz das Blut in die letzten Zellen sendet, wird sie von den jauchzenden, lachenden und vor Glück schäumenden Menschen weder beachtet noch ignoriert – die Welt der Alten, Einsamen und Hässlichen kommt in den Augen der Schönheit schlicht nicht vor.
Kerstins resignierte Zustimmung zu einem Leben ohne Liebe, Partnerschaft und Teilhabe fällt ihr im Halbjahr der Vergänglichkeit leicht; Nebel, Frost und Dunkelheit sind ihre Elemente, die ihre Scham vor den hämischen Blicken der Erfolgreichen verbergen. Geht es aber mit Riesenschritten auf die Sommerzeit zu, wird ihr schmerzlich klar, dass ihr Leben ein Triathlon der Entsagung ist mit den Disziplinen des Sublimierens, des Fantasierens und des Kompensierens. Wenn die Menschen beim Knospen der Blüten wie Bienen ausschwärmen und sich dem Sog des Bios überlassen und das Spiel der Attraktivität genießen, sehnt Kerstin sich nach Stille und Dämmer. Selbst in der Messe gilt das Gesetz der Perfektion: Beim Friedensgruß nach dem Vaterunser küssen sich die jungen Paare innig ab, bevor sie sich mitleidig dazu herablassen, den Ballastexistenzen die Hand zu reichen.
Kerstin kann gut mit sich alleine auskommen, eine treuere Freundschaft als die zu sich selbst hat sie ihr Lebtag nicht gekannt. Diese Ressource hilft ihr auch, wenn ringsherum die Zeichen auf Vereinigung stehen. Doch unterläuft ihr Organismus ihre klösterliche Disziplin bevorzugt in der Hemmungslosigkeit des Frühlings; sie hat alle Spielarten der Askese vom Beten über die Meditation bis zum Fasten probiert, um die Sehnsucht nach Nähe, Zärtlichkeit und Sex in sich zum Verstummen zu bringen, um nicht von einem unstillbaren Verlangen à la Tantalos gemartert zu werden. Im Advent genügt sie sich selbst beim Wandern auf Skiern unter verschneiten Bäumen, geht es aber auf Ostern zu, schmerzen die Verlockungen in Form entzückend gekleideter, brunftig riechender Körper hoffnungslos. Das brutal gereizte Verlangen bleibt heillos unbefriedigt, beim Tanz des Lebens ist sie dem Glück der Anderen ausgesetzt.
Soweit ihr verkrüppelter Körper es zulässt, sucht sie das Vergessen im Sport. Beim Schwimmen, Radfahren und Laufen werden nach einer gewissen Zeit Endorphine, die den Sexualhormonen biochemisch eng verwandt sind, ausgeschüttet. Sie sorgen für einen Zustand wohliger Ermattung, tendenziell der Betäubung nach dem Orgasmus vergleichbar. Von Sexualität will sie gar nicht sprechen, besser von Selbsthilfe, da sie auch beim Training allein ist. Eine letzte Gewissheit bleibt ihr: Wenn die Aussätzige die Blendung durch die Gesunden meidet, erspart sie sich die Enttäuschung der Zurückweisung. Im freiwilligen Ausschluss aus der Gemeinschaft liegt ihre Selbstbestimmung, ohne die sie nicht länger atmen wollte. Dessen ungeachtet freut sie sich noch vor Mariä Lichtmess auf die Sommersonnenwende, dann werden die Tage wieder kürzer.