Tavor

Vor zwei Jahren starb ihre Mutter. War ihr Tod nach einem langen Leiden an multiplen Erkrankungen auch eine Erlösung, vermisst Kerstin sie bis heute. Sie geht trauernd ihren Weg, die Stufen zu nehmen fällt ihr schwer, weil sie höher geworden sind. Als das Zimmer im Pflegeheim, in dem sie die letzten anderthalb Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ausgeräumt wurde, packten die Pflegerinnen (m/w/d) neben Büchern, Kleidern, Fotos und Papieren auch die verbliebenen Medikamente ihrer Mutter in die Koffer, Taschen und Kisten. Als Kerstin Wochen später darin stöberte, stieß sie auf ein fast volles Röhrchen Tavor.

Der Wirkstoff Lorazepam, der unter dem Markennamen Tavor vertrieben wird, gehört zu den Benzodiazepinen, jenen „Psychopharmaka aus der Gruppe der Tranquilizer mit anxiolytischer, sedativer, muskelrelaxierender und antikonvulsivischer Wirkung“, wie der Pschyrembel informiert. Tavor ist medizinisch indiziert bei Angst- und Spannungszuständen sowie zur Kurzzeittherapie schwerer Schlafstörungen, in der Neurologie wird es bei epileptischen Anfällen verabreicht. Viermal im letzten Jahr war ihre Mutter unter Strapazen ins Krankenhaus eingewiesen worden, wegen einer Lungenentzündung und eines eskalierenden Dekubitus. Kurz vor Weihnachten äußerte sie im Gespräch mit ihrem Hausarzt den Wunsch, fortan in ihrem Zimmer im Heim zu bleiben. Eine gegebenenfalls anstehende künstliche Ernährung und apparative Beatmung lehnte sie explizit ab. Die Umstellung der Versorgung auf eine palliativmedizinische beinhaltete unter anderem die Bereithaltung angstlösender Substanzen.

Neugierig nahm Kerstin eine kleine weiße Pille. Als die Wirkung nach einer runden Stunde anflutete, wusste sie sofort, dass sie ihre Droge gefunden hatte. Sie fühlte sich erleichtert, als hätte man ihr eine enge Bleiweste von den Schultern genommen. Ihr Atem beruhigte sich, ihre Gesichtsmuskeln lockerten sich, das Pochen des Herzens bis in den Hals flaute ab. Ihre Gedanken drückten nicht länger quälend ihre Stirn, ihre Seele taute auf. Ihre chronische Furcht, für ihre Sehnsucht nach Nähe verurteilt und mit Einsamkeit bestraft zu werden, zerstob. Ihr Körper schien ihr nicht länger eine fremde Masse, sondern ein warmer Organismus, der sich an sich selbst erfreut. Das größte Geschenk, das Tavor ihr macht, ist eine Nacht ohne Wachliegen, schmerzendes Grübeln und nervöses Umherwälzen. Sie wacht mit dem Klingeln des Weckers auf, trunken vom Schlaf und vom Lorazepam; der Drogenkater, der sich im leicht febrilen Schwindel äußert, nimmt dem Tagesbeginn die Härte. Die eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit wird kompensiert durch eine milde Euphorie.

Immer wieder kommen Bilder der Bestattung der Urne hoch. Kerstin war überwältigt von der schieren Anzahl der Menschen, die sich von einer alten Freundin, einer ehemaligen Kollegin, einer vertrauten Nachbarin verabschieden wollten. Während der Eucharistiefeier in der Kirche, auf dem Friedhof im Nieselregen am offenen Grab und bei der Kaffeetafel im Gasthaus zählte sie etwa 120 Trauergäste. Eine Frau jenseits der 80 sagte ihr, dass sie und ihre Mutter 67 Jahre eng befreundet gewesen seien. Eine andere Dame im gleichen Alter erwies sich im Gespräch als Gefährtin der Klosterschule. Drei zurückgelassene Freundinnen, die mit ihrer Mutter über viele Jahre ins Theater gegangen waren, bestätigten Kerstin, sie habe exakt ihre Augenpartie. Ihrer Mutter hätte dieser Abschied voller froher wie wehmütiger Erinnerungen sicher gefallen, sie stand im Zentrum durch ihre Abwesenheit.

Kerstin gedenkt besonders der letzten Wochen, als ihre Mutter das Sterben zu erwarten schien. Sie war schon lange bettlägerig, aß und trank nur noch wie ein Spatz, lutschte eine Löffelspitze Honig, konnte nur unter Mühen sprechen. Als Kerstin ihr weinend sagte, sie wollte nicht, dass sie gehe und sie allein zurücklasse, antwortete sie ernst und lächelnd, dass sie das nicht zu entscheiden habe. Ergeben in Gottes Willen, das schien ihre Haltung zu sein; bei aller Lebensfreude akzeptierte sie das nahe Ende. Sie saß lange am Bettrand, hielt ihre dürr und kalt gewordene Hand und wollte sie partout nicht hergeben. Als ihr eines Abends eine Pflegerin einen Therapiehund auf die Bettdecke setzte, lachte ihre Mutter vor Freude über diesen belebenden Besuch der grundgütigen Kreatur und tätschelte ihr weiches Fell. Und keine Woche vor dem Tod schickte sie Kerstin mit geflüsterten, aber klar artikulierten Worten aus dem Zimmer: Sie wolle sterben, und müsse dafür allein sein.

Was gäbe Kerstin dafür, hätte sie den Optimismus ihrer Mutter selbst im Angesicht des Todes. Ihre eigene Existenz wird ihr durch Tavor erträglicher, ohne dass sich durch das Präparat die deprimierenden Umstände änderten. Kerstin gibt sich dem sanften Rausch der Pharmakologie willig hin, dem Risiko einer Abhängigkeit zum Trotz. Den Zustand des Leidvergessens erreicht sie nach langem Lesen, durch Bewegung, in der Kontemplation und beim Schach. Allerdings muss sie dafür etwas tun, diese Exerzitien sind störanfällig durch andere Menschen, deren lärmende Gegenwart Kerstin immer schwerer aushält. Tavor zieht einen Schleier vor die verkommene Welt, lässt die Sonne schneller untergehen und hilft beim Vollzug der Tagesfron. Das Schlucken der Tablette kommt Kerstin wie die Kommunion einer ihrer Mutter geweihten Hostie vor. Nicht umsonst sangen die Rolling Stones in den 1960er Jahren, als Lorazepam chemisch isoliert wurde, in Bezug auf Tranquilizer von „Mother’s little helper“.

Neben ihrem Schreibtisch hängt eine Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Mutter. Auf dem Bild ist sie etwa 16 Monate alt und hält sich am Geländer eines Laufstalls fest, den Blick dem Betrachter (m/w/d) zugewandt. Mit ihrer Mutter ist der einzige Mensch, der an ihrem verkorksten Leben und ihren kranken Gefühlen ehrlich Anteil genommen hat, fort. Nun bleibt Kerstin noch das Selbstgespräch, katholisch formuliert das Beten. Sie fragt sich, ob ihre Mutter ihre Stimme beim Versuch eines Kontaktes über den Tod hinaus hört. Sie zündet daheim Kerzen aus Bienenwachs an, als Gabe an die Imkerin, die ihre Mutter war. Wenn sie ihr Grab besucht, stellt sie ein Kompositionslicht in die Laterne und legt zwei Rosen daneben, meist weiße, mal rote. Die Bibel auf ihrem Schreibpult stammt aus der Bibliothek ihrer Mutter, der wollene Schal für den Winter aus ihrer Garderobe, die Perlenkette um den Hals aus ihrer Schatulle. So bleibt sie über Rituale und persönliche Gegenstände in Kerstins Welt präsent. Und zur Wundbehandlung hat sie Tavor, Mutter sei Dank.