Tempolimit

Auto-Deutschland erlebt turbulente Zeiten. Zuerst kam der systematische Betrug bei der Messung der Abgase durch eine manipulierte Software bei deutschen Herstellern ans Licht, dann verhängten zahlreiche Verwaltungsgerichte wegen dauernder gesundheitsgefährdender Überschreitung der Stickoxid-Grenzwerte Fahrverbote für Diesel-PKW in den Städten. Und zu allem Überfluss empfiehlt nun noch eine Kommission, einberufen vom Bundesministerium für Verkehr, ein Tempolimit von 130 km/h auf heimischen Autobahnen.

Ein Tempolimit (vom italienischen tempo, was so viel bedeutet wie Zeitabschnitt, in moderner Bedeutung auch Geschwindigkeit, und vom französischen limite, der Grenzlinie) ist eine generell geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf öffentlichen Straßen. Innerhalb wie außerhalb geschlossener Ortschaften ist die Höchstgeschwindigkeit für PKW und LKW geregelt. Von dieser Vorschrift sind Autobahnen ausdrücklich ausgenommen, dort darf potenziell so schnell gejagt werden, wie es die fahrenden Waffen hergeben (StVO § 3, (2), 2.).

Kaum hatte die genannte Kommission, die nach verkehrsrelevanten Mitteln und Wegen zur Senkung der Schadstoffbelastung der Atemluft suchen sollte, ihren Vorschlag gemacht, wurde sie vom verantwortlichen Bundesminister abgewatscht. Wer es wagt, an das Goldene Kalb (Ex 32,1-6) der Deutschen zu rühren, bekommt den geballten Zorn der ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD, FDP, VDA, ADAC und BILD zu spüren. Diese orientiert sich willfährig an den anheimelnden Claims der Produzenten wie „Vorsprung durch Technik“ oder „Freude am Fahren“ sowie am altbackenen Motto der größten Lobby in Deutschland, „Freie Fahrt für freie Bürger“. (20 Mio. Mitglieder im ADAC, Stand 2017.)

Auf jedem dritten Podium wird mittlerweile der Verkehrswende das Wort geredet. Ein smarter Mobilitätsmix aus Bus, Bahn, Fahrrad und Auto soll die Qualität der Atemluft verbessern, den Motorenlärm mindern, Unfallzahlen senken, die Staugefahr verringern und den Platz in den Städten vergrößern. Geht es jedoch konkret um die Einschränkung des privilegierten PKW, kneift noch jeder Politiker (m/w/d), der an seine Karriere glaubt. So stößt das naheliegende wie medizinisch sinnvolle Tempolimit auf Autobahnen auf parteiübergreifende Ablehnung. Jedes Industrieland kennt es, selbst die überindividualisierten USA achten es. Einzig Deutschland weiß sich im Fehlen eines solchen einig mit sinistren Ländern wie Afghanistan, Myanmar, Nordkorea und Somalia.

Die fetischistische Beziehung zum eigenen Auto ist ein negativer Aspekt deutscher Kultur; hierzulande sachlich über die kollektiven Kosten und Risiken individueller Motorisierung zu sprechen, ist ebenso undankbar wie der Versuch, in den USA die Begrenzung des Zugangs zu kriegstauglichen Schnellfeuergewehren oder in Russland den reglementierten Verkauf von Wodka zu fordern. Es ist politisch gewollt (Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin, Artikel 65 GG), dass tonnenschwere Geschosse mit 240 km/h und mehr über die Spuren fegen und bei Unfällen verlässlich schwächere Verkehrsteilnehmer verkrüppeln und töten. Schließlich müsse die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter gewährleistet bleiben, wie es aus München, Stuttgart und Ingolstadt tönt.

Was in anderen Ländern schon lange Realität ist – staatlich geförderter Ausbau der Fahrradinfrastruktur (Skandinavien), Priorisierung der Schiene und des ÖPNV (Schweiz), Parkraumbewirtschaftung (Niederlande, Großbritannien) -, bleibt in Deutschland Utopie. Hier ist der Verkehr wie weiland 1972 ein Synonym für den Autoverkehr, dem sich alle anderen Verkehrsarten und -teilnehmer (m/w/d) unterzuordnen haben. Kein Land hat sich im 20. Jahrhundert so bedenkenlos in die Abhängigkeit der schmutzigen Branche begeben; nun hängen die Deutschen, geboren wie zugewandert, am Benzin wie die Junkies am Morphin und lassen sich von der Werbung einreden, sie erführen sich Unabhängigkeit.

Wer jemals in Frankreich, Spanien, Polen oder der Ukraine auf den Fernstraßen gefahren ist, wird die Abwesenheit der deutschen Aggressivität an Steuer und Pedal als Gnade erleben. Der selbst induzierte Stress im Fegefeuer der Überholspur entfällt, Autofahren ist andernorts noch Cruisen. Auf die Einsicht der Verbraucher zu setzen, ist in Deutschland vergeblich – hier wird Freiheit definiert über die Lizenz zum Geschwindigkeitsrausch. Die Geschichte weiß bislang von keinem Fall, in dem ein Tempolimit Auslöser einer Revolution gewesen wäre; andere Völker beten oder demonstrieren, die politiklosen Deutschen rasen.

Die deutsche Automobilindustrie hat im Jahr 2017 einen Umsatz von 422,8 Mrd. Euro erwirtschaftet, auf 1.000 Einwohner kommen hier 610 PKW (EU-Durchschnitt: 587). Sich mit diesem auf ewiges Wachstum ausgerichteten Fossil anzulegen, um etwa international verbindliche Klimaziele zu erreichen, traut sich keine Partei. Vor diesem Hintergrund wird die beleidigende Antwort des zuständigen Ministers zur angeregten Einführung des Tempolimits („gegen jeden Menschenverstand“) nachvollziehbar: Schiere Panik regiert angesichts des absehbaren Ölendes, das eine dramatische Schrumpfung einer überkommenen Branche zur Folge haben wird. Anstatt nach intelligenten Lösungen einer menschengerechten Mobilität zu suchen, legen die Manager behände Scheuklappen an.