Toronto

In der Woche nach Ostern wird Toronto zum Mittelpunkt der Schachwelt. In der kanadischen Metropole am Lake Ontario findet das nächste Kandidatenturnier der FIDE zur Ermittlung des Herausforderers des Weltmeisters statt. Dabei handelt es sich um eine Premiere im Kosmos der 64 Felder: Im sogenannten Open streiten acht Kandidaten darum, den amtierenden Titelträger Ding Liren aus China in einem Match um die Krone herauszufordern. In der parallel abgehaltenen Women’s Section spielen acht Kandidatinnen um das Recht, die aktuelle Championesse Ju Wenjun, auch aus China, am Brett zu stellen, ebenfalls doppelrundig über 14 Partien.

Für das Open sind, in der Reihenfolge ihrer Elozahl vom März 2024, Fabiano Caruana (USA, 2804), Hikaru Nakamura (USA, 2789), Alireza Firouzja (Frankreich, 2760), Ian Nepomniachtchi (Russland, 2758), Dommaraju Gukesh (Indien, 2747), Rameshbabu Praggnanandhaa (Indien, 2747), Santosh Gujrathi Vidit (Indien, 2747) und Nijat Abasov (Aserbaidschan, 2632) qualifiziert. Dieses Feld ist so ausgeglichen besetzt, dass es schwerfällt, genau einen Favoriten auf den Sieg zu benennen. Fabiano Caruana und Ian Nepomniachtchi haben bereits ein Kandidatenturnier gewonnen und den darauf folgenden WM-Kampf verloren; sie verfügen über Routine, Können und Stabilität, um ein solch anstrengendes Turnier erneut zu gewinnen. Hikaru Nakamura ist zu sehr zum Schach-Entertainer auf YouTube und Twitch geworden, als dass er weiterhin ein seriöser Wettbewerber wäre. Bei Alireza Firouzja ist es ungewiss, wie entschlossen er noch am Brett agiert; sein zwischenzeitlich begonnenes Studium des Modedesigns in Paris legt es nahe, dass er noch andere berufliche Interessen verfolgt.

Dommaraju Gukesh und Rameshbabu Praggnanandhaa stehen im doppelten Sinne für die Zukunft. Zum einen sind die beiden Großmeister selbst für heutige Verhältnisse mit 17 und 18 Jahren sehr jung, wohl zu jung, um ein solch hartes Turnier wie das bevorstehende zu gewinnen; zum anderen stehen sie für den Vormarsch Indiens als Schachgroßmacht. Nachdem Visvanathan Anand an in den 1990er Jahren als erster Großmeister aus dem Geburtsland des Schachs die Weltspitze stürmte, setzte in Indien ein großer Schachboom mit zahlreichen Trainingsschulen schon für Kinder ein, deren Früchte nun geerntet werden. Santosh Gujrathi Vidit und Nijat Abasov dürften höchstwahrscheinlich nur als Mitspieler dieses Turniers in Erinnerung bleiben; letzterer ist ohnehin lediglich als Nachrücker dabei, nachdem der Sieger des World Cups des letzten Jahres, der Exweltmeister Magnus Carlsen erklärte, seinen Platz in Toronto nicht annehmen zu wollen.

Im Frauenturnier sind, ebenfalls in der Reihenfolge ihrer Wertung des laufenden Monats, Aleksandra Goryachkina (FIDE, 2553), Lei Tingjie (China, 2550), Humpy Koneru (Indien, 2546), Kateryna Lagno (Russland, 2542), Tan Zhongyi (China, 2521), Anna Muzychuk (Ukraine, 2520), Vaishali Rameshbabu (Indien, 2481) und Nurgyul Salimova (Bulgarien, 2426) dabei. Analog zu den Männern ist auch hier mit einem offenen und aufregenden Turnierverlauf zu rechnen, eine eindeutige Anwärterin auf den Gewinn drängt sich nicht zwingend auf. Aleksandra Goryachkina, Lei Tingjie und Tan Zhongyi haben jeweils bereits ein Match um die Weltmeisterschaft gespielt und weisen entsprechende Erfahrung, Klasse und Willensstärke auf. Aleksandra Goryachkina holte im letzten Herbst bei der russischen Meisterschaft der Männer 50 Prozent der möglichen Punkte, eine exzellente Ausbeute angesichts des hochkarätigen Teilnehmerfeldes. Sollte sie diese Form aktualisieren, könnte sie in Kanada am Ende ganz vorn landen.

Anna Muzychuk war bereits Weltmeisterin im Schnellschach und im Blitz, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Mariya gehört sie seit über zehn Jahren zur Weltspitze. Gleiches gilt für Humpy Koneru, die nach einer Familienpause wieder nach oben gekommen ist. Auch Kateryna Lagno kann wiederholte Erfolgen bei internationalen Turnieren und Olympiaden vorweisen; die im ukrainischen Lwiw geborene naturalisierte Russin erreichte 2018 das Finale der WM, das sie knapp verlor. Schwerer einzuschätzen sind hingegen die Chancen von Vaishali Rameshbabu (die Schwester von Praggnanandhaa aus der Open Section) und Nurgyul Salimova; jung wie sie sind, können sie unbeschwert aufspielen, vielleicht gelingt ihnen eine Überraschung. Der Spielplan Jede gegen Jede bringt es unvermeidlich mit sich, dass die Ukrainerin Anna Muzychuk auf die Russin Kateryna Lagno trifft; vermutlich werden sich die beiden vornehmlich als Sportlerinnen begegnen und Politik und Krieg beiseite lassen.

Dass es in Toronto zu zwei parallelen Turnieren mit dem höchsten Einsatz der Qualifikation für das WM-Finale kommt, ist sicher als Aufwertung des Frauenschachs zu verstehen, die sich der Weltschachverband FIDE im einhundertsten Jahr seines Bestehens auf die Fahnen geschrieben hat. Männer und Frauen spielen zwar zur selben Zeit in der Großen Halle in Toronto, erfahren aber in wesentlichen Punkten eine unterschiedliche Behandlung. Von den insgesamt garantierten € 750.000,- Preisgeld gehen € 500.000,- an die Männer, den Frauen verbleiben noch € 250.000,-. Weiter auffällig sind die unterschiedlichen Zeitressourcen: Den Männern stehen für die ersten 40 Züge 120 Minuten zur Verfügung, die Frauen müssen für die gleiche Distanz mit 90 Minuten auskommen. Dabei spielen alle klassisches Schach, nach den gleichen Regeln, aus der Grundstellung mit 16 weißen und 16 schwarzen Steine heraus.

Wie bei den Männern zeigt auch die Besetzung des Frauenturniers, dass die Jahrzehnte währende Dominanz (Sowjet-)Russlands im Schach Geschichte ist; die bestimmenden Schachnationen sind hier wie da mittlerweile China und Indien. Und dass mit Toronto erstmals eine Stadt auf dem nordamerikanischen Kontinent Schauplatz gleich zweier Kandidat(inne)enturniere wird, verdankt sie dem Hauptsponsor Mark Scheinberg. Der israelisch-kanadische Unternehmer, der mit einer Plattform für Online-Poker zu großem Reichtum gekommen ist, hat ein Haus im Stadtteil Richmond Hill, er lebt wohl aus steuerlichen Gründen auf der Isle of Man, dem Austragungsort eines renommierten Turniers nach Schweizer System. Die FIDE hat mit der Familie Scheinberg einen Vertrag bis 2026 über die Ausrichtung und Finanzierung eines großen Schachturniers pro Jahr geschlossen.

Am 4. April beginnen die Turniere mit der ersten Partie; sollte es nach 14 Runden einen Gleichstand an der Spitze geben, wird es ein Stechen im Schnellschach um den alleinigen Triumph geben. Rundenbeginn ist jeweils 14:30 Uhr lokaler Zeit, das entspricht 00:00 Uhr in Mumbai, 04:30 Uhr in Schanghai und 19:30 Uhr in Hamburg. Die Partien werden auf den einschlägigen Schachseiten übertragen und von ausgewiesenen Großmeistern kommentiert, die Schachfans weltweit dürfen sich auf einen spannenden und unterhaltsamen April freuen. Diese Freude wird auch nicht getrübt durch den Umstand, dass die jeweilige Nummer Eins der Weltrangliste an der Weltmeisterschaft gar nicht mehr teilnimmt: Der Norweger Magnus Carlsen hat schlicht keine Lust mehr auf die kräftezehrende Vorbereitung auf ein Titelmatch, er hat seinen WM-Titels im Frühjahr 2023 nicht verteidigt und firmiert nun als Champion a. D., als der er weiter Turniere spielt und meist gewinnt. Die Chinesin Hou Yifan, die in ihrer aktiven Zeit vermehrt an Männerturnieren teilnahm, hat sich bereits vor Jahren vom professionellen Schach zurückgezogen und lehrt nun als Professorin am Institut für Sporterziehung an der Universität Shenzhen.