Totenhaus

Am Anfang des Abstiegs in die Hölle à la Dante steht das Tor eines Zaunes. Der Erzähler beschreibt die militärische Strenge einer Gefängnisfestung für die verbannten Sträflinge, wo sie in den nächsten Jahren leben und arbeiten werden: „Hier innerhalb war eine eigene, besondere Welt, die mit nichts anderem Ähnlichkeit hatte; hier waren eigene, besondere Gesetze, eigene Tracht, eigene Sitten und Gebräuche, ein Totenhaus für Lebendigbegrabene, ein Leben wie sonst nirgends auf der Welt und auch Menschen von einer besonderen Art.“ Mit den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ verarbeitet der russische Schriftsteller Fedor Dostoevski seine Erfahrungen mit der Zwangsarbeit in Sibirien.

Fedor Dostoevski wurde 1821 in Moskau geboren, sein Vater war Arzt, die Mutter stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Er wurde im russisch-orthodoxen Glauben erzogen und erhielt Französisch-Unterricht, nach dem Abitur studierte er ab 1838 an der militärisch-ingenieurtechnischen Universität von Petersburg. Nach dem Tod der Mutter 1837 und des Vaters 1839 wurde die finanzielle Lage Dostoevskis und seiner Geschwister prekär. Schon mit schriftstellerischen Arbeiten hervorgetreten, versuchte er nun, vom Schreiben zu leben. 1845 kam er mit dem Briefroman „Arme Leute“ schlagartig zu literarischer Anerkennung. Dostoevski war zu dieser Zeit von frühsozialistischen Idealen erfüllt und gehörte einem Intellektuellenzirkel an, der über die Abschaffung der Leibeigenschaft diskutierte. Die Diskutanten wurden 1849 in einem reaktionären Klima verhaftet, nach einer Scheinhinrichtung wurde Dostoevski zu vier Jahren Katorga in Sibirien und zu anschließendem Militärdienst verurteilt. Als er 1859 nach Petersburg zurückkehren durfte, war er als Autor vergessen.

Er veröffentlichte 1860/61 die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ in der Monatszeitschrift PYCCKИ MИP; das Zeugnis über seine Verbannung rehabilitierte Dostoevski als realistischen Autor mit einem fesselnden, auf ausgefeilten Dialogen voller Psychologie fußenden Stil. In der Folge entstanden seine großen Romane „Schuld und Sühne“ (1867), „Der Idiot“ (1869), „Die Dämonen“ (1872) und „Die Brüder Karamasov“ (1880), die seinen Ruf als einer der wichtigsten Schriftsteller Europas begründeten. Trotz nachlassender Zensur in einem liberaler werdenden Russland unter dem Zaren Alexander II. (ab 1855) hielt Dostoevski sich von politischen Themen fern und diskutierte in seinen Romanen moralische Fragen vor einer religiösen Grundierung. 1867 hatte er die Verlagsmitarbeiterin Anna Snitkina geheiratet, die die Haushaltskasse übernahm und dafür sorgte, dass der spielsüchtige Gatte beide nicht vollends ruinierte. Das Ehepaar lebte in den 1860er Jahren auf der Flucht vor Gläubigern in Baden-Baden und Dresden, 1872 erwarb es in Staraja Russa ein Haus. In seinen letzten Lebensjahren erhielt der Autor zahlreiche Ehrungen, 1881 starb Fedor Dostoevski nach Lungenblutungen in Petersburg.

Die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ folgen formal den sogenannten Feuilletonromanen des Schriftstellers. Die Handlung wird reportageähnlich entfaltet, die Strukturierung in für sich abgeschlossene Kapitel entspricht der Logik des Abdrucks über Monate in einer Publikumszeitschrift. Die Sprache ist packend und bunt, sie will die Szene dem Leser möglichst plastisch darbringen und regt zur Identifizierung mit der Hauptperson an. Um der Zensur aus dem Weg zu gehen, erfindet Fedor Dostoevski einen Verurteilten anderen Namens, den er in der Ich-Form das Geschehen berichten lässt. So gerät das „Totenhaus“ zu einer Mischung aus Fiktion und Memoiren im Gewand des Romans; inhaltlich stellt es die historisch erste Beschreibung der Praxis der Katorga aus dem Inneren der Verbannung dar, die für das gebildete Publikum Russlands wie ein Expeditionsbericht aus einem Schattenreich wirkt und für eine heftige Debatte über ihren Sinn sorgt – ohne dass es zu einer nennenswerten Reform kommen sollte.

Das riesige Sibirien vom Ostrand des Urals bis nach Kamtschatka ist mit etwa 15 Mio. km2 anderthalb mal größer als der europäische Kontinent. In seiner modernen Geschichte ist es untrennbar mit Russland verbunden, das Tundra, Tajga, Wald und Steppe ab Ende des 16. Jahrhunderts seinem Staatsgebiet einverleibt und die dort lebenden Nomadenvölker unterjocht. Neben Soldaten und Kaufleuten schicken die Romanovs ein Heer an Sträflingen zu Fuß über die „Straße der Ketten“ von Moskau über Kazan, Perm, Tjumen, Omsk, Tomsk, Krasnojarsk und Irkutsk nach Sibirien, auch weil sich kaum Freiwillige für die harte Arbeit in den Minen finden lassen. Die dünn besiedelte nordasiatische Landmasse wird zu einem Freiluftgefängnis unter russischer Verwaltung; neben Berufsverbrechern werden Kleinkriminelle, Landstreicher, Prostituierte, Leibeigene und Alkoholiker zur Zwangsarbeit in den Fernen Osten deportiert, zunehmend auch politische Oppositionelle. Manchen werden die Nasenflügel aufgeschlitzt und die Haut mit Brandmalen verstümmelt, nach Verbüßung der Haftstrafe müssen sie am Ort als Siedler bleiben. Im 19. Jahrhundert entsendet der russische Staat rund eine Million Menschen in die Verbannung nach Sibirien.

Der Ich-Erzähler aus dem „Totenhaus“ ist wie Dostoevski selbst adliger Herkunft. Der Privilegien seiner sozialen Stellung geht er mit der Verurteilung verlustig, er verbringt seine Haft in eisernen Fußfesseln und ist umgeben von gewissenlosen Gestalten, die ihrem Hass auf Angehörige der Oberschicht freien Lauf lassen. Besonders setzt ihm das Fehlen jeglicher intellektueller Beschäftigung zu, das einzig erlaubte Buch im Gefängnis ist das Neue Testament. Mit Mördern, Vergewaltigern, Dieben und Betrügern muss er sich die Pritsche, den Esstisch und das Badehaus teilen, ohne eine Minute des Alleinseins zu kosten. Die Verbrecher aus dem einst idealisierten Volk zeigen keinerlei Anzeichen von Reue über ihre Taten; sie wähnen sich zu Unrecht verurteilt von einer Macht, die ihre elenden Lebensbedingungen nicht kennt.

Nach und nach versteht der Ich-Erzähler die Ökonomie des Gefängnisses. Die Enge der Baracken ist ihm ebenso schwer erträglich wie der Gestank der verdreckten, geschundenen Leiber und das miese Essen. Ihm fällt die Anpassung an die rohe Gewalt im Gefängnisalltag schwerer als seinen Zellengenossen, die vielfach nichts als Armut, Schläge und Hunger kennen: „Der gebildete Mensch dagegen, der nach dem Gesetz die gleiche Strafe erleidet wie der Mann aus dem Volke, verliert oft unvergleichlich viel mehr als dieser. Er muss all seine geistigen Bedürfnisse und Gewohnheiten unterdrücken, in eine ihm nicht genügende Umgebung übergehen, muß eine andere Art Luft atmen lernen.“

Die Sträflinge schmuggeln Branntwein ins Gefängnis und versetzen ihre karge Essensration, um sich einmal im Quartal betrinken zu können. Sie bestechen die Soldaten, um heimlich Frauen außerhalb der Festung zu besuchen, und verspielen beim – verbotenen – Kartenspiel ihr letztes Hemd. Sie kultivieren eine Ehre des Schweigens gegenüber den Wachen, die zu missachten mit dem Tode durch die Kameraden enden kann. Und dann machen sich die abgerissenen Häftlinge voller Schwung, kindlicher Begeisterung und Witz an die Proben zu einem Theaterstück, das es ihnen einmal im Jahr zu Weihnachten erlaubt, an etwas anderes zu denken als an ihre würdelose Existenz als Sklaven.

Eine Atempause der Fron bietet der Aufenthalt im Lazarett, bei einer Erkrankung oder nach einer schweren körperlichen Züchtigung mit Peitschen durch die Soldaten, die die Delinquenten halb tot prügeln: „Die Gefangenen konnten ihre Ärzte gar nicht hoch genug loben, sahen sie für ihre Väter an und achteten sie sehr hoch. Ein jeder sah sich von ihnen freundlich behandelt und bekam von ihnen ein gutes Wort zu hören; der Gefangene aber, der von allen anderen Menschen ausgestoßen war, schätzte das sehr hoch, weil er sah, daß dieses gute Wort und diese Freundlichkeit ungekünstelt und aufrichtig waren.“

Das „Totenhaus“ ist nicht nur eine verschlüsselte Autobiografie, sondern auch eine Kritik am russischen Strafvollzug in seiner Kombination mit der Verbannung. Es sei nicht zu erwarten, dass die nach monatelangen Fußmärschen zerlumpt, erkrankt und entkräftet in Sibirien angekommenen Teufel durch die irrsinnige Strafe geläutert würden, einzig sei mit einer Verstetigung der Qual und des Grolls zu rechnen. Das weite Sibirien wird zum dunklen Russland, wo der zivilisierte europäische Teil des Zarenreiches seine unerwünschten Bürger ablädt, ohne ernsthaft an die politischen und gesellschaftlichen Übel der Misere zu gehen.

Der Autor des „Totenhauses“ wird durch die Aussicht auf eine ferne Änderung seiner Lage am Leben gehalten: „Ich erinnere mich, daß nur das leidenschaftliche Verlangen nach einer Auferstehung, einer Erneuerung, einem neuen Leben mir die Kraft verlieh, zu warten und zu hoffen.“ Diese Hoffnung beobachtet er auch bei jenen, die zu Jahrzehnten der Katorga verurteilt sind und die angesichts der bescheidenen Lebenserwartung Mitte des 19. Jahrhunderts nicht damit rechnen können, ihre Heimat jemals wiederzusehen. Aber es gehört zum Menschlichen, sich auch auf dem Grund der Finsternis an einer Perspektive festzuhalten, die gerade im Glauben an Kraft gewinnt. Sie erst unterscheidet selbst den schlimmsten Verbrecher vom reißenden Tier.