Die Tour de France, ausgerichtet seit 1903, ist neben dem Giro d’Italia und der Vuelta a Espana eine der drei großen Radrundfahrten im Kalender. Sportlich diesen gleichwertig, zieht sie ungleich mehr Besucher am Straßenrand und vor allem am Fernsehschirm in ihren Bann. Neben den Olympischen Sommerspielen und der Fußballweltmeisterschaft ist sie das globale Sportereignis mit der höchsten Rate an Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist sie ein französisches Heiligtum und en passant eine drei Wochen währende Präsentation der landschaftlichen Schönheiten zwischen Ärmelkanal und Mittelmeer.
Die an diesem Wochenende zuende gehene Rundfahrt zeigt die Schokoladenseiten Frankreichs, mit denen dieses Land so überreich beschenkt ist. Die windige Normandie mit ihren Seebädern und Apfelwiesen, die raue Atlantikküste von der Bretagne hinunter bis Bordeaux, die Provence mit den endlosen Lavendelfeldern, die grauen Bergriesen der Pyrenäen, die mondänen Savoir-Vivre-Perlen der Côte d’Azur, die Schneekuppen der Alpen, die nimmermüde Hauptstadt Paris – all diese und viele weitere Destinationen reihen sich wie im Guide Michelin während der Übertragung im Fernsehen aneinander.
Sicher, es geht auch um Sport bei der Tour. Französische Athleten spielen im Klassement seit Jahrzehnten keine Rolle mehr, das Rennen gewinnt nicht der beste Fahrer, sondern die finanzstärkste Mannschaft (in dieser Saison das britische Team Sky, das sich praktischerweise als Fernsehsender die Inhalte seiner Bilder gleich mitliefert). In Gestalt ihres Kapitäns feiert der schwarze Engel Lance Armstrong eine schaurige Auferstehung; Chris Froome hat sich längst zum Diktator des Pelotons aufgeschwungen, der mit gebieterischer Geste jede Tempoverschärfung der Konkurrenz untersagt und sich ansonsten von seinen Huskies die Rampen hochziehen lässt.
Dass er auch noch das Zeitfahren brutal dominiert, ist nur über systematisches Doping zu erklären. Dass es seit vier Jahren keine positiven Dopingproben gegeben hat, ist lediglich ein Indiz dafür, dass die Fahnder noch nicht wissen, wie sie die aktuellen Manipulationen nachweisen können. Wenn man jedoch die freudig jubelnden Menschen à la campagne bei der Durchfahrt des Feldes sieht, versteht man den kulturellen Rang dieses Sportfestes für das Land. Diese Begeisterung wird allerdings getrübt durch den entfesselten Mob, der speziell im Gebirge die Fahrer anbrüllt, sie wie Stiere mit Flaggen reizt und sie auch schon mal vom Rad stürzt.
Doch scheinen derlei Momente der Entgrenzung von der Organisation der Tour de France gewünscht zu sein. Bei der Streckenführung geht es nicht um die Sicherheit der Sportler, sondern um möglichst spektakuläre TV-Bilder. Enthemmte Reporter tun willfährig das ihre, um das Rennen mit ihren stereotypen Kommentaren zu dramatisieren. Die Logik eines archaischen Kampfes unter Helden durchbricht zum Finale der Etappe die meditative Ruhe des stundenlangen Pedalierens vor märchenhafter Kulisse. Dem terrorgeschundenen Frankreich dieser Tage tun solche Stunden der Ablenkung sicher gut. Trotz allem, la Tour c’est la Fête. Im nächsten Juli wieder.