Triage

Dass die globale Corona-Krise den Beginn einer neuen Zeitrechnung markiert, lässt sich an einem Wechsel des Leitvokabulars ablesen. In der öffentlichen Kommunikation dominieren nicht länger Fachbegriffe aus dem ökonomischen oder dem politischen Diskurs, vielmehr solche aus dem wissenschaftlichen, genauer dem medizinisch-klinischen Kontext. So steht als Schreckgespenst hinter den weitreichenden Maßnahmen der Exekutive zur Einschränkung der Mobilität die „Triage“, die es vom Schlachtfeld in die Gegenwart geschafft hat und keine reine Metapher mehr ist. Ebenso wenig wie das Virus, das nicht länger mehr den Rechner bedroht, sondern den Organismus.

Die Triage (aus dem Französischen für das Sortieren, die Auslese) meint allgemein die Erstbegutachtung von Patienten mit der Zuordnung in prioritätsorientierte Gruppen bei erforderlicher Rationierung der medizinischen Versorgung, wie der Pschyrembel informiert. Die Triage kommt bevorzugt im Rettungsdienst, in der Katastrophenmedizin und natürlich im Krieg zum Einsatz, wenn eine Diskrepanz zwischen verfügbaren und erforderlichen Kapazitäten vorliegt, also nicht allen Patienten (m/w/d) gleichermaßen geholfen werden kann. In einem solchen Fall werden jene Patienten zuerst behandelt, deren Zustand sich durch die Therapie mutmaßlich verbessert.

Die Gefahr des Corona-Virus für das Individuum ist von jener für das Kollektiv nicht zu trennen: Wenn mehr Menschen intensivmedizinisch behandelt werden müssen, als entsprechende Apparate, Betten, Schutzausrüstungen und Pflegekräfte zur Verfügung stehen, wird die jeweilige Klinik um eine Auswahl nicht umhinkommen. Ein solcher Rationalisierungszwang tritt dann ein, wenn sich das Virus exponentiell verbreitet und die Zahl der Schwerkranken sprunghaft ansteigt. Deswegen zielen die nationalen politischen Maßnahmen wie das Schließen von Schulen und Kindergärten, von Bibliotheken und Theatern, von Restaurants und Kneipen, von Gotteshäusern und Landesgrenzen auf eine Verlangsamung der Verbreitung des Virus. In Italien kamen diese Regelungen zu spät, in der Folge mussten Mediziner (m/w/d) mangels Möglichkeiten Patienten sterben lassen.

Es scheint so zu sein, dass weite Teile der Bevölkerung in Deutschland noch immer nicht verstanden haben, wie ernst die Situation für die ganze Gesellschaft ist. Das pandemisch, also über Kontinente hinweg sich verteilende Virus bedroht das Funktionieren des Gesundheitssystems als Ganzes, weil es schlicht auf einen Schlag zu viele Infizierte gibt, deren Behandlung triagiert werden muss (vom medizinischen Personal, das sich keineswegs selbst anstecken darf). Besonders alte Menschen, solche mit Vorerkrankungen der Atemwege und jene mit geschwächtem Immunsystem zählen zu den Risikogruppen, deren Schutz zuvörderst betrieben werden muss. Das Beschränken sozialer Kontakte auf ein Minimum ist hier infektionspolitisch geboten – was gerade junge Leute nicht davon abhält, weiterhin sorglos Partys zu feiern.

Dass bereits Erkrankte und solche mit Kontakten zu Infizierten in Quarantäne gesteckt werden, bremst die Verbreitung des Erregers, stoppt sie aber nicht. Die Quarantäne (vom Französischen quarante, bezogen auf die traditionellen vierzig Tage, die seinerzeit ein Schiff mit Infizierten außerhalb des Hafens liegen musste, bevor es anlanden durfte) war und ist das infektionspolitische Gebot bei hoch ansteckenden und potenziell tödlich verlaufenden Erkrankungen wie der Pest, Ebola, der Tuberkulose und eben Corona. In der Absonderung der Infizierten liegt das Durchtennen der Kette der Weitergabe des Keimes. Auf den Isolierstationen einer Klinik werden die Erkrankten soweit möglich versorgt, in Häusern oder Wohnungen werden Verdachtsfälle beobachtet.

Solange es weder Impfstoffe noch heilende Medikamente gibt, sind die strenge Quarantäne und die Reduzierung sozialer Kontakte die Mittel der Wahl, um eine offene Triage zu vermeiden. An die Vernunft der Bevölkerung zu appellieren führt nicht weit, wie gerade in Deutschland zu beobachten ist. In der als massiven Eingriff in die persönliche Freiheit erlebten Krise brechen soziale Hemmungen erstaunlich schnell weg, Hamsterkäufe und Diebstähle von Desinfektionsmitteln sind erste Vorboten einer kollabierenden öffentlichen Ordnung. Offenbar entstellt sich der Mensch im Ausnahmezustand zur Kenntlichkeit. Der von der Regierung getätigte Aufruf zur Solidarität zeigt gerade, dass sie nicht zur Grundausstattung gesellschaftlichen Miteinanders zählt. Die Drohung der Rationierung von Lebensmitteln, Strom, Benzin und medizinischen Leistungen ist geeignet, menschliche Aggressivität situativ ausbrechen zu lassen.

Von Immunität im medizinischen Sinn wird gesprochen, wenn der Organismus unempfänglich ist für Infektionen mit pathogenen Mikroorganismen. Ein gesunder Mensch wird mit dem Corona-Virus ohne große Probleme fertig, nach mildem Krankheitsverlauf hat er Immunität gegen eben dieses Virus erworben. Da Corona aber gerade auf die Risikopatienten destruktiv bis letal wirkt, kann die Lösung nicht in provozierter Infektion samt Immunisierung der Herde liegen – sondern nur in der Verlangsamung seiner Verbreitung, um alle heutigen und künftigen Erkrankten nacheinander behandeln zu können. Wer das nicht versteht und sich fahrlässig verhält, führt eine Triage herbei, die niemand will. Anscheinend lässt sie sich nur mit staatlichem Zwang vermeiden.