Udo

  Ich wünsch‘ Dir Liebe ohne Leiden und eine Hand, die deine hält – Udo Jürgens, Liedzeile

Als kurz vor Weihnachten 2014 die Nachricht seines Todes die Runde machte, war das Erstaunen groß: Udo Jürgens sollte tatsächlich sterblich sein? Der Mann, der zum Inventar der Bundesrepublik gehörte wie der Tatort, die Lottozahlen, die Bild und die Autobahn, war immer schon da, ohne dass ein Ende seiner Gegenwart auch nur denkbar schien. Noch im Advent hatte er in Zürich ein umjubeltes Konzert vor ausverkauftem Haus gegeben, im Rahmen einer Tournee mit dem optimistischen Titel „Mitten im Leben“. Und nun wurde der zigfach dekorierte und preisgekrönte Sänger, Komponist und Texter bei einem Spaziergang am See von einem Herzinfarkt erlöst, im 81. Lebensjahr – nicht zu fassen.

Udo Jürgens wurde 1934 als Jürgen Udo Bockelmann in Klagenfurt geboren. Er stammte aus einer Familie mit großbürgerlichem Hintergrund – der Großvater war Bankdirektor, zwei Onkel waren Manager in der Mineralölindustrie, der Vater wurde Bürgermeister, die Mutter war eine geborene Arp – und wuchs auf einem Schloss in Kärnten auf. Die Schule verließ er ein Jahr vor der Matura, zu dieser Zeit spielte er bereits autodidaktisch gut Klavier. Er besuchte das Konservatorium in Klagenfurt und experimentierte stilistisch mit dem Jazz, dem Swing und dem Chanson. Nach ersten lokalen Erfolgen in Österreich und Deutschland sowie Kompositionen für Shirley Bassey und Frank Sinatra hatte er 1965 mit dem Titel „17 Jahr, blondes Haar“ seinen ersten großen Hit. 1966 schaffte er mit dem Gewinn des Grand Prix d’Eurovision de la Chanson mit „Merci, Cherie“ den endgültigen internationalen Durchbruch. Während seiner Karriere komponierte er annähend 1.000 Lieder, produzierte 50 Alben, verkaufte rund 105 Millionen Tonträger und absolvierte 25 Tourneen. Damit ist Udo Jürgens einer der kommerziell erfolgreichsten und einflussreichsten Entertainer im deutschen Sprachraum.

Udo Jürgens, wie seit den frühen 1960er Jahren sein griffiger Künstlername lautete, lebte ab Mitte der 1970er Jahre in der Schweiz, seit 2007 besaß er neben der österreichischen auch die Schweizer Staatsbürgerschaft. Er hat nie dementiert, dass die Wohnsitznahme am Zürichsee auch aus steuerlichen Gründen geschah. Seine konstanten Erfolge feierte er wenig überraschend in der Bundesrepublik Deutschland, wo mehr als dreimal so viele Menschen lebten wie in Österreich und der Schweiz zusammen; gelegentlich sang er auch auf Englisch, Französisch und Italienisch. Jürgens‘ Popularität war nicht auf die Konzerthallen, Hitparaden und Plattenläden beschränkt. Er trat 1970 zu Ehren Willy Brandts beim Sommerfest im Kanzleramt auf, sang auf einem Empfang des gewerkschaftseigenen Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat und warb für die Glücksspirale. Er nahm 1978 sowie 1990 höchst eingängige, naive Lieder mit der deutschen Fußballnationalmannschaft auf, war mehrfach Gast bei Wetten, dass und übernahm Nebenrollen in TV-Serien und Filmkomödien. Mehr Konsens geht nicht.

Natürlich wurde er vom deutschen Feuilleton, dem jeder kommerzielle Erfolg zuerst verdächtig ist und das die Trennung zwischen E- und U-Kultur ehern bewahrt, argwöhnisch beäugt. Dabei hat sich Jürgens in Kooperation mit seinen Textern durchweg lebhaften Themen angenommen, ohne dabei provokante oder kontroverse Positionen zu scheuen. Er sang über die Ehe ohne Trauschein („Ehrenwertes Haus“) und über die Melancholie der Gastarbeiter („Griechischer Wein“), über die Gefährdung durch Drogen („Rot blüht der Mohn“) und über die Angst vor dem Alter („Mit 66 Jahren“). Nicht nur die Texte heben ihn aus dem Zirkel der zu Recht vergessenen Schlagersänger der 1970er Jahre hinaus, auch die komplexen Melodien und Harmonien seiner Kompositionen, die mehr zum Mitsummen als zum Mitklatschen animieren. Sein Genre ist der hedonistische Schlager in der Tradition des Chansons, dem man die konzentrierte Arbeit seiner Entstehung nicht unbedingt anhört. Sein über die Jahrzehnte konserviertes Strahlen trägt das seine dazu bei.

Geradezu beispielhaft ist das zu sehen, zu hören und zu erleben bei seinem Lied „Ich war noch niemals in New York“, veröffentlicht 1982, vorgetragen bei seinem letzten Konzert 2014 in Zürich (auf YouTube existiert eine exzellente Aufnahme). Das Stück handelt von den Gedanken eines namenlosen Mannes, der aus seinem eintönigen Alltag ausbrechen will und von Freiheit und Verrücktsein träumt, eben von einer spontanen Reise nach New York und weiter nach San Francisco. Am Ende bleibt er bei seinem trauten Familienleben, ohne damit zufrieden zu sein – und ohne dass Udo dieses Zaudern in Zynismus einseift. Die Strophen singt Jürgens allein am Flügel, zum Refrain setzt das Breitband-Orchester mit Bläsern und Streichern ein. Choreographisch geschickt, wird durch zwei Gastauftritte mit einem Medley aus „New York“ von Frank Sinatra das Träumen aus dem Alltag im engen Mietshaus visualisiert. 2007 sollte diese Geschichte zu einem Musical ausgeweitet werden, 2019 schließlich zu einem Film. 2009 lieferten die Sportfreunde Stiller gar eine Coverversion.

Jürgens ist auch mit 80 Jahren noch schlank, das Haar ist voll, der Rücken gerade, auch wenn er beim Tanzen etwas hüftsteif wirkt. Er trifft locker jeden Ton auf der Tastatur und erreicht mühelos die Höhen beim Chor, seine Spiellaune hat er sich all die Jahrzehnte über erhalten. Beim Schwenk der Kamera ins Publikum zeigt sich die Freude, die er seinen Fans bereitet, die für ihre Treue berüchtigt sind. Es sind nicht nur blonde und blondierte Damen jeden Alters, die mit ihren Rosen wedeln, auch reife Herren singen jede Zeile mit. Eine junge Mutter trägt ihre kleine Tochter wippend auf den Schultern, und eine Gruppe mittelalter Männer steht im weißen Bademantel im Saal, dem legendären Kleidungsstück, in dem Udo Jürgens, erschöpft und überglücklich, seine Zugaben zu geben pflegte, nach über drei Stunden Konzert. In der ersten Reihe hält jemand ein Schild mit der Aufschrift „Danke für Deine Lieder“ – offenbar dafür, dass er Hoffnungen und Sehnsüchte treffend darstellt.

Udo Jürgens ist nicht nur ein begnadeter Entertainer, der mit seinen Melodien und Versen den Geschmack von Millionen trifft, und das recht konstant über 50 Jahre. Er führt auch ein Privatleben der Libertinage, die ihn heute im Zeitalter der Politischen Korrektheit und des jakobinischen Tugendterrors mutmaßlich nahe an den Index führte. Jürgens war mehrfach verheiratet, hatte uneheliche Kinder und hat seine Affairen nie verheimlicht. Doch wäre es falsch, ihn als Playboy abzustempeln, der seinen Ruhm gerade bei jungen Frauen schamlos ausnutzte. Unvergessen bleibt sein Duett mit seiner Tochter Jenny „Liebe ohne Leiden“ von 1984, wo er davon singt, seine erwachsen gewordene Tochter ins Leben ziehen lassen zu müssen, ohne ihre Schritte als Vater beschützen zu können. Heute steht männliche Heterosexualität per se unter Rechtfertigungszwang – Udo Jürgens ist ein Repräsentant, der sie immer mit Verantwortung und Ehrlichkeit gekoppelt hat. Zu #MeToo hat er nie einen Anlass gegeben, zur Monogamie gehören zwei.

Udo Jürgens ist ein Künstler aus der Ära des Fernsehens, der Festivals und der Schallplatten. Eine ähnlich lange Laufbahn wie seine ist in der Welt der Sechs-Sekunden-Schnipsel und der Streaming-Portale schwer vorstellbar; so wie Bob Dylan, ABBA und die Rolling Stones reüssierte Udo Jürgens mit kontinuierlicher Arbeit und hat sich seinen Markt und sein Publikum gleichsam selbst geschaffen, als Synonym für den Schlager, so anspruchs- wie geschmack- und humorvoll. Etliche seiner Titel sind zu stehenden Wendungen geworden, von „Buenos Dias, Argentina“ über „Es lebe das Laster“ und „Vielen Dank für die Blumen“ bis „Aber bitte mit Sahne“. Die Zeit wird zeigen, was von diesem Bühnentier bleiben wird, diesem Erzähler und Verführer voller Charme und Charisma. Die Chancen stehen gut, dass so manches seiner Stücke aus dem schier unerschöpflichen Repertoire in den Rang eines Volksliedes gehoben wird, das auch in 100 Jahren noch im Äther zu hören ist und beim Wandern gesungen wird. Es wäre ihm zu gönnen, vor allem aber den nächsten Generationen, die es ertragen müssen, diesen Popstar niemals live im Konzert erlebt haben zu können.