Unorthodox

  Omnia ad maiorem dei gloriam – Wahlspruch des Jesuitenordens


Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
Fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
Mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen.

Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
Mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
In dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
Und das mich führt in deinen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt,
Und laß mich unter deinen Kindern leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

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Der Advent ist die Zeit des freudigen Wartens auf Weihnachten, aus dem Lateinischen übersetzt heißt es Ankunft. Die Lieder, die in der Messe gesungen werden, künden von der Vorfreude auf das Fest der Geburt Jesu Christi, von der Erlösung der Welt durch das Kommen des Messias. Zu keiner Zeit des Kirchenjahres wird der Glaube an Gott so vehement gefordert und gefeiert wie im Advent, für seinen Bruder Zweifel ist partout kein Platz in Chor und Gebälk. Vor diesem Hintergrund mutet das Lied „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ des niederländischen Dichters und Priesters Huub Oosterhuis an wie pure Ketzerei. Eigentlich ist es ein Wunder, dass der Text noch im katholischen Gotteslob unter der Nummer GL 422 zu finden ist.

Huub Oosterhuis wurde 1933 in Amsterdam geboren, nach dem Abitur trat er 1952 in den Jesuitenorden ein. Er studierte Niederländisch, Philosophie und katholische Theologie, wurde 1964 zum Priester geweiht und trat 1965 eine Stelle als Pfarrer der Amsterdamer Studentenekklesia an. Nach vermehrter Kritik an der Liturgie und am Zölibat wurde er 1969 aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen und trat im Zuge dessen aus der katholischen Kirche aus. Er heiratete 1970, wurde Vater einer Tochter und leitete die Amsterdamer Studentenekklesia fortan als freikirchliche Gemeinde. Seine bereits Ende der 1950er Jahre einsetzende Dichtung religiöser Texte führt er bis heute fort.

Das II. Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) hatte gewaltige Auswirkungen auf die katholische Liturgie in der ganzen Welt. So stand der Priester nicht länger mit dem Rücken zur Gemeinde, auch wurde die Messe nicht mehr durchgängig auf Latein gefeiert, sondern in der jeweiligen Landessprache; entsprechend groß war in den 1960er Jahren der Bedarf an neuen singbaren und verständlichen Liedern auch in den mehrheitlich protestantisch geprägten Niederlanden. Auch in diesen Kontext ist das liturgische und lyrische Wirken Oosterhuis‘ einzuordnen. Nicht nur bezieht er sich in seiner Dichtung auf den alttestamentarischen und evangelikalen Kanon der katholischen Kirche, er öffnet seine Liedtexte auch der Glaubenswirklichkeit der Gemeinde, die nicht immer konform geht mit der offiziellen Verkündigung des Bischofs oder gar der Kurie. Oosterhuis‘ Lieder wurden zum großen Teil auch ins Deutsche übersetzt und fanden Eingang sowohl ins katholische Gotteslob als auch ins evangelische Gesangbuch.

Sein wohl bekanntester Text „Ik sta voor U in leegte en gemis“ wurde 1966 veröffentlicht, die Vertonung stammte von Bernard Huijbers, die Übersetzung ins Deutsche besorgte Lothar Zenetti. Das Lied ist im Wortsinn unorthodox, da es die existentielle Verlorenheit des Menschen beschreibt, hartnäckige Zweifel am Wirken Gottes artikuliert und seine Allmacht, Güte und Liebe in Frage stellt, ein aus der Perspektive katholischer Dogmatik ungeheuerlicher Vorgang. Das Wort unorthodox bedeutet etwa abweichend, gegenläufig, eigensinnig. Es stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Silben un (nicht), orthos (richtig) und doxa (Glaube, Meinung) zusammen. Eine unorthodoxe Position, die also quer zur allgemeinen, als allein gültig betrachteten Lehre steht, kennt das Judentum ebenso wie der Marxismus. Mit dem Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche ist sie kategorisch unvereinbar, sie wird als Häresie verdammt und wurde von der Inquisition bekämpft.

Huub Oosterhuis hat sein persönliches Glaubensverständnis über das der katholischen Kirche gestellt und die zu erwartenden Konsequenzen gezogen. Ironischerweise erträgt gerade der intellektuelle, machtorientierte und erziehungsbeflissene Jesuitenorden keine subjektive Abweichung von der proklamierten Wahrheit, die im unbedingten Glauben wurzelt, und reinigt sich von ihr wie die Kommunistische Partei durch Ausschluss der Dissidenten. Für Oosterhuis und seine Gemeinde bedeutet das unter anderem, dass die Feier der Eucharistie nicht mehr als ein Sakrament im Sinne der römisch-katholischen Theologie vollzogen werden kann, sondern als Ritus zwar mit Tradition, aber ohne Rückbindung an eine übermenschliche Autorität, dafür gestützt auf eine spirituelle Erfahrung.

Der präsentierte Text, der im Zusammenhang mit der getragenen Komposition den Psalmen an die Seite gestellt werden kann, bedient sich bevorzugt alttestamentarischer Motive, ohne einzelne Bibelstellen direkt zu zitieren. Die Figur, die der Leserin und Sängerin unweigerlich in den Sinn kommt, ist Hiob, der von Gott einer Reihe grausamer Prüfungen unterzogen wird, an seinem Glauben verzweifelt, sich dennoch standhaft in sein Schicksal fügt, um schließlich den Tag seiner Geburt zu verfluchen. Doch anders als Hiob wendet sich das lyrische Ich Oosterhuis‘, sich seiner unverlierbaren Würde bewusst, an Gott in einer Weise, die ein Schweigen als Antwort nicht hinnimmt. Es gibt sich nicht mit einem traditionellen Deus absconditus zufrieden, der prinzipiell unerkennbar ist und groteskerweise deshalb als anwesend gilt, sondern beharrt auf einer interpersonellen Kommunikation unter Anwesenden.

Dem gewesenen Jesuiten Oosterhuis wird einsichtig sein, dass er dergestalt seinem göttlichen Gegenüber nicht beikommen wird. Sein Glaubensmut besteht gerade darin, seine Ängste vor dem Leben und dem Tod nicht zu verbergen, sondern sie menschlich auszudrücken im Wissen um seine Schwäche und seine Begrenztheit. Er hat die Hoffnung auf Trost, Segen und Erlösung nicht aufgegeben und ist dadurch katholisch geblieben – Gnade ist nicht durch irdische Werke, gute Taten, eifriges Beten und frommes Wohlgefallen zu realisieren, sondern liegt allein im Walten Gottes, dessen Kriterien undurchschaubar bleiben. Es bleibt ein Gefühl des unfassbar Ungerechten, wenn junge Menschen qualvoll sterben müssen, wenn sich das Leid der Welt allen Bestrebungen zum Trotz nicht verringern will. Credo quia absurdum est.

Im Advent haben der Jubel des „Adeste fideles“ und der Zweifel Oosterhuis‘ traulich Platz Seit an Seit. Letzterer ist gegebenenfalls ehrlicher, weil er sich nicht mit einer auf das Jenseits gerichteten Frohen Botschaft abspeisen lässt, sondern von Gott gesehen und individuell angesprochen werden will. Das Lied ist eine Erinnerung an den Allmächtigen, die Schar der Gläubigen nicht anonym einzugemeinden, sondern jede Einzelne mit Namen zu nennen. Dass Gott das tun kann und tun wird, ist das Geheimnis des Glaubens, das in jeder Feier der Eucharistie im Hochgebet rezitiert wird. Der ehemalige Katholik Oosterhuis ist, wie die Renegaten generell, der Wahrheit näher als die Orthodoxen, einfach dadurch, dass er Fragen stellt, die anderen nicht in den Sinn kämen. Und dabei seine Sehnsucht wunderbar poetisch formuliert: „Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.“ Diese Seele ist für Gott noch zu gewinnen.