Untergrund

Die Bundesrepublik wurde vor einer Woche von ihrer Vergangenheit eingeholt, in Gestalt einer Untoten. Mit der Verhaftung Daniela Klettes Ende Februar in einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg wurde der vergessene Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) auf Wiedervorlage gesetzt. Anfang der 1990er Jahre soll Klette in den Untergrund gegangen sein, der Polizei fehlte seitdem jede Spur zu ihrem Aufenthalt und ihrem Milieu. Dass die Gesuchte seit gut zwanzig Jahren in Kreuzberg ein unbehelligtes Leben zwischen Nachhilfe für Nachbarskinder, Fahrradtouren und Tanzstunden im Capoeira-Verein führte, sorgt allseits für Augenreiben und Unverständnis. Die jäh hergestellte Öffentlichkeit wird dazu führen, dass ihre beiden Komplizen, die ebenfalls in Berlin vermutet werden, bald gefasst werden dürften.

Daniela Klette wurde 1958 in Karlsruhe geboren. Die Ermittler gehen derzeit davon aus, dass sie sich 1989 der Roten Armee Fraktion (RAF) anschloss; sie wird gemeinhin zur dritten Generation der Terrorgruppe gerechnet. Klette wird beschuldigt, von den 1990er bis in die 2010er Jahre an mehreren Überfällen auf Banken, Geldtransporter und Supermärkte mitgewirkt zu haben. Vermutlich sollte das dabei erbeutete Geld nicht zur Vorbereitung und Durchführung weiterer Attentate verwendet werden, sondern zur Finanzierung des Lebens im Untergrund. Ob Klette an der Tötung des Sprechers des Vorstands der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 1989 und des Vorsitzenden der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder, 1991 beteiligt war, ist bis heute offen. 1993 kam ein RAF-Kader bei einem SEK-Einsatz in Bad Kleinen ums Leben, eine andere Führungsfigur der Gruppe wurde dabei verhaftet. 1998 löste sich die RAF mit einem öffentlichen Schreiben auf, zu ihrem unrühmlichen Erbe zählen 35 zum Teil bis heute nicht aufgeklärte Morde, die Rasterfahndung und die linke „tageszeitung“.

Die RAF ging aus der studentisch bewegten großstädtischen Linken hervor, als ihre Geburtsstunde gilt die Befreiung des inhaftierten Kaufhausbrandstifters Andreas Baader 1970 während eines begleiteten Freigangs. Die Terrorgruppe, in Lagern der PLO in Jordanien an Schusswaffen ausgebildet, suchte die gewaltsame Konfrontation mit dem Staat, den sie als nationalistisch-kapitalistisch, gar faschistisch bezeichnete, mit dem Ziel seiner revolutionären Überwindung. Seinen Höhepunkt erreichte der Schrecken im Jahr 1977, als der Generalbundesanwalt, der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank und der Chef der Vereinigung der Arbeitgeberverbände ermordet wurden. Im kolportierten Slogan dieses Jahres „Buback, Ponto, Schleyer – der Nächste ist ein Bayer“ mischten sich Bewunderung für die Täter und Freude über deren Morde. Eine Handvoll Terroristen, in dezentralen Kommandos operierend, forderte die Staatsmacht heraus, ohne jemals Wohlwollen für ihre Blutspur in der Bevölkerung über die genuin linksextreme Szene hinaus zu erreichen.

Gegenstand der Ermittlungen bleibt, ob Daniela Klette, die mit ihren zwei langjährigen Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg über Fahndungsplakate des Bundeskriminalamtes (BKA) gesucht wurde, während ihrer Zeit im Untergrund aktive Unterstützung durch Sympathisanten erfahren hat. Dem Vernehmen nach hat sie einen gefälschten Pass mit einem italienischen Namen benutzt und in einer Wohnung gelebt, deren Hauptmieterin sie nicht war. Klette wählte im Untergrund offenbar demonstrative Sichtbarkeit als Tarnung. Sie erteilte Mathematik-Nachhilfe, führte ihren Hund spazieren und engagierte sich in einem Capoeira-Verein, mit dem sie auch am Karneval der Kulturen teilnahm. Dass sie dabei fotografiert wurde, schien sie nicht zu stören; offenbar glaubte sie an die Überzeugungskraft ihrer Legende. Diese hinderte sie aber nicht daran, in ihrer Wohnung Waffen und Munition aufzubewahren, wohl für weitere Überfälle zur Sicherstellung ihrer Terrorrente.

Während ein professionelles Team von Fahndern drei Jahrzehnte vergeblich nach Klette und ihren Genossen suchte, ging es am Ende mit Hilfe moderner Technik ganz schnell. Die Behörden setzten für ihre Fahndungsaufrufe eine Software ein, die Gesichter künstlich altern lassen kann, um zu illustrieren, wie die Gesuchten mittlerweile aussehen könnten. Dabei gibt es bereits frei zugängliche Bilderkennungsprogramme auf der Basis Künstlicher Intelligenz, mit denen Personen im gewaltigen Archiv des Internets aufgespürt werden können. Genau das hat eine kleine Redaktion getan, die im Herbst 2023 einen verqueren Hinweis auf die Untergetauchte bekam. Die Journalisten gaben ein digitalisiertes Foto Klettes aus den späten 1980er Jahren in die Suchmaschine ein und bekamen Bilder einer älteren Frau geliefert, die Anfang des 21. Jahrhunderts mit anderen Frauen zusammen auf den Straßen der Hauptstadt tanzte und diese Bilder auch noch selbst auf Facebook hochlud; die Ähnlichkeit zur Gesuchten über weiße Haare und Augenfältchen war frappierend. Warum private Rechercheure diese Software nutzen, die Polizei mit ihrem Apparat aber nicht, wird in der laufenden Diskussion thematisiert werden müssen.

Daniela Klette mag ein beschauliches postterroristisches Leben im alternativen Kreuzberg geführt haben, ohne weiter straffällig geworden zu sein – für die ihr zur Last gelegten Taten wird sie sich vor Gericht verantworten müssen. Ihre Verhaftung gibt der Bundesrepublik Deutschland die Gelegenheit, diesen Teil ihrer Vergangenheit endgültig vergehen zu lassen. Heutige Linksextreme zielen nicht mehr mit der Kalaschnikow auf hohe Wirtschaftsführer und werfen keine Handgranaten auf leitende Beamte, stattdessen hacken sie die Webseiten global tätiger Konzerne, verbreiten gefälschte Informationen in sozialen Netzwerken, hetzen gegen Israel und prügeln rechte Politiker sowie Aktivisten ins Koma. Allemal eine Diskursstörung, eingebettet in einen studentischen Lebensstil. Sollten sich diese Prototerroristen dereinst in den Ruhestand verabschieden, werden sie kaum auf den Raub von Bargeld setzen können. Vielmehr werden sie vorher in Bitcoin investieren.