Das 21. Jahrhundert wird zum Zeitalter der Städte werden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2050 rund 9 Milliarden Menschen die Erde besiedeln werden, davon werden etwa 75 % in urbanen Ballungen leben. Im Jahr 2007 lag der Anteil der Stadtbevölkerung global bei 50 %, im Jahr 1900 betrug er erst zehn Prozent. Der Siegeszug der Stadt als Lebensort und Daseinsform erzwingt, dass so verschiedene Aktivitäten wie Wohnen, Arbeiten, Sport, Kultur, Handel, Erziehung, medizinische Versorgung, Tourismus und Verkehr auf begrenztem Raum organisiert werden müssen.
„Urban“ heißt wörtlich zur Stadt gehörend, städtisch; im übertragenden Sinn meint es weltläufig, gewandt (vom Lateinischen urbs = Stadt respektive urbanus = fein, gebildet). Ihm gegenüber steht der Begriff des „Ruralen“, des Ländlichen. Historisch gesehen vollzogen sich die Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Entwicklung im urbanen Kontext: In der Antike stand die Polis für die Muße der Elite, im Mittelalter forcierte Urbanität die Emanzipation des aufstrebenden Bürgertums, das 19. Jahrhundert sah die normierte industrielle Produktion, in der fragmentierten Großstadt der Gegenwart lauten die Stichworte Integration und Differenz.
Mit seinem Buch „Städte für Menschen“ (Original 2010, deutsche Fassung 2015) zieht der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl (* 1936) eine Bilanz seines 50 Jahre währenden Schaffens in der Stadtentwicklung von Kopenhagen über Vancouver bis Melbourne. Er ist davon überzeugt, „dass urbane Strukturen und Stadtplanung das Verhalten der Menschen beeinflussen und die Art bestimmen, wie Städte funktionieren“. Sein Schlüsselbegriff bei der Planung resp. Neugestaltung ganzer Quartiere lautet Menschliches Maß, das im Zuge der Errichtung der autogerechten Stadt seit den 1950er Jahren verloren gegangen sei. Für sein Engagement erhielt Jan Gehl jüngst den Julius Posener Preis 2018.
Gehls Ansatz als Architekt und Stadtplaner ist ein anthropologischer. Der bebaute Stadtraum mit seinen Häusern, Straßen und Plätzen ist ein Ort für Begegnungen unter Menschen, die eine weitgehend konstante Körperlänge, ein eingeschränktes Gesichtsfeld und ein gattungsgemäßes Tempo beim Gehen behalten. An diesen Parametern habe sich urbanes Gestalten zu orientieren. Beim Gehen mit etwa 5 km/h registrieren Menschen Details um sich herum, sie erkennen Gesichter und Gesten, sie hören und riechen ihre Umgebung, ihr Hirn hat Zeit zum Verarbeiten der Informationen. Das gilt auch für das Radfahren mit 20 km/h, keinesfalls aber mehr für das Autofahren mit 50 km/h und schneller.
Die ideale Stadt nimmt sich die sinnlichen Eindrücke der Fußgänger und Radfahrer zur Referenz. Tatsächlich aber ist in vielen Metropolen der Erde das Auto mit seinem ungebremsten Flächenhunger nach Fahrbahnen, Parkplätzen, Tankstellen und Werkstätten die Dominante, der sich andere Mobilitätsformen zu unterwerfen haben. Eine Katastrophe ist für Gehl Brasilia, das aus der Vogelperspektive wie ein Adler mit Kopf und Schwingen durchaus ästhetisch daherkomme, zwischen dessen gewaltigen Blöcken mit ihren gigantischen Abständen sich aber kaum ein Mensch freiwillig aufhalte. Weitere Negativmuster liefern Los Angeles und Dubai, deren Straßen sich lediglich für den Autoverkehr eignen.
Vorbilder menschengerechter Strukturen zeigen hingegen Siena und Venedig. Die Piazza del Campo in der Toskana misst 135 mal 90 Meter, eine Fläche, die das menschliche Auge gerade noch sicher erfasst. Bänke, Sockel, Nischen und Poller bieten den Menschen die Möglichkeit zum Sitzen oder Anlehnen und stiften neben Komfort auch Sicherheit – in der Folge ist der Platz stets belebt. Venedig, ebenfalls vor gut 700 Jahren angelegt, ist komplett für den Fußverkehr gebaut, die kurzen Wege führen über eine einzige Bühne mit zahlreichen Brücken und Plätzen. Hier wird das Gehen nicht dauernd durch rote Ampeln und lästiges Warten an windigen Kreuzungen unterbrochen.
Laut Gehl ist es elementar, dass eine umsichtige Stadtplanung den Menschen Einladungen zum Laufen und zum Radfahren ausspricht, dabei Kinder und Senioren mit ihren Ansprüchen mitbedenkend; eine Priorisierung des ÖPNV geht damit einher. Das erheischt zum einen eine passende Infrastruktur mit breiten Trottoirs und ebenen Radwegen, die regelmäßig gewartet, abends gut beleuchtet und im Winter vom Schnee geräumt werden, zum anderen eine visuell reizvolle Gestaltung der Fassaden der Erdgeschosse. Geschäftszeilen mit bis zu 20 Türen auf 100 Meter, farblich und ornamental rhythmisiert, werden viel häufiger aufgesucht als eine monoton abweisende Gebäudefront ohne Fenster: „Der Kampf um Qualität findet im Kleinen statt.“
Eine Stadt auf Augenhöhe, für deren Design Gehl zwölf Qualitätskriterien sowie Best-Practise-Beispiele vornehmlich aus Skandinavien benennt, ist lebendig, sicher, nachhaltig und gesund. Sie nimmt die Bedürfnisse ihrer Bewohner (m/w/d) ernst und macht ihnen Offerten zum Schauen, zum Verweilen und zur Interaktion. Dazu muss die Privilegierung des Autoverkehrs mit seinen monströsen Betonschneisen durch dicht besiedelte Wohnviertel aufgehoben werden. Eine drastische Reduzierung der PKW verbessert die Luftqualität, mindert den Lärm, schafft Platz für Bäume und verringert die Unfälle. Das gilt für die alten Städte Europas ebenso wie für die wuchernden Agglomerationen Asiens und Afrikas.
Im Diskurs der Architektur stehen oft die Leuchtturmprojekte berühmter Büros im Mittelpunkt, ohne den Fragen nachzugehen, wie sich ein Museum, ein Stadion oder ein Hotel in die städtische Umgebung einfügen, was sie zum Funktionieren einer Stadt beitragen und wie sie mit den Menschen kommunizieren. Jan Gehl plädiert dafür, bei der Stadtplanung vom humanen Bios auszugehen, hin zum sorgfältig studierten Verhalten im Raum zu kommen und erst dann mit den Überlegungen zum Bauen anzusetzen. Unter dieser Prämisse hat die Stadt gute Chancen, Treiber sozialer, kultureller, ökonomischer und technischer Entwicklungen zu bleiben, wie seit den Anfängen im sumerischen Ur im Zweistromland (Gen 11,31) vor 6.000 Jahren.