Die Abwesenheit Gottes ist seine Macht.
Heiner Müller im Gespräch mit Ruth Berghaus
Der Advent hilft den christlichen Gläubigen zur Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. Ende Dezember feiern sie die Geburt Jesu Christi, des Messias, des Sohnes Gottes. Eine solche Vermenschlichung des Unbegreiflichen kennt keine andere Religion. In den Kirchen und in vielen Wohnungen brennen nun die Kerzen, die für das Kommen des Lichtes in die dunkle Welt stehen. In diesem Warten auf die Ankunft Gottes steckt die Ahnung seiner chronischen Verborgenheit.
Im Alten Testament ist die Rede von einem verborgenen Gott (Jes 45,15), das Neue Testament erweitert diese Perspektive mit der Geburt Christi in Menschengestalt (Lk 2,1-20). Auf diese Weise wird die gewaltige Entfernung zwischen Gott und den Menschen ein wenig geringer, Gottes Wirken wird in den Wundern Jesu plastisch und dient als Ansporn zum Glauben. Mit seiner Himmelfahrt nach seiner Kreuzigung nimmt der Gottessohn dann seinen angestammten Platz wieder ein, fern der Menschen und weiter unbegreiflich.
Ein Gott kann nicht anders als unfassbar sein. Menschen können ihn anbeten, ihm danken, seine Hilfe erflehen, vor seinem Richten sich ängstigen, in seinem Wohlgefallen leben und seine Gebote befolgen – aber eine Kommunikation von gleich zu gleich wird es mit ihm nicht geben. Wenn Gott, wie es Kirche und Bibel lehren, vor Beginn der Welt war und die Macht hat, die Zeit zu beenden, überschreitet er die fundamentalen Kategorien, in denen menschliches Leben sich abspielt. Er ist denkbar und gegebenenfalls erfahrbar nur als das ganz Andere – eben in der Abwesenheit.
Das Bilderverbot des Alten Testamentes (Deut 5,8) kann das Evangelium umgehen, weil Gott den Menschen als einer von ihnen entgegen tritt. Jesu Leben als Wanderprediger und sein Sterben auf Golgatha fielen in der damaligen Gesellschaft Palästinas unter römischer Besatzung nicht aus dem Rahmen, seine Kunde vom nahenden Reich Gottes und seine Bereitschaft zur Vergebung hingegen schon. Die Bildnisse Jesu und seines Wirkens, aus denen die Kunstgeschichte bis zur Neuzeit zu großen Teilen besteht, sind Näherungen an ein Phänomen, das den Verstand übersteigt.
Der große Scholastiker Thomas von Aquin preist denn auch die „Gottheit tief verborgen“, in der Augen, Mund und Hände sich täuschen (GL 497). Sie mag sich zeigen in Symbolen, etwa dem Kreuz, dem Brot, dem Berg oder der Flamme, diese Symbole sind aber immer nur Verweise auf etwas nicht zu Fassendes. Wäre es nicht so, handelte es sich um einen Artefakt, einen Götzen, der den Mensch zum Leben braucht. Der christliche Glaube beginnt mit der Ergebung, dass Gott weiß, was er tut – ohne dass der Mensch sein Handeln zugleich verstünde.
Das bevorstehende Fest der Geburt Christi von der Gottesmutter Maria mag intellektuell absurd erscheinen, dramaturgisch ist es ein raffinierter Kniff. Die Erzählung der werdenden Eltern in der Fremde, mit der Geburt im Stall, dem Lob der Engel und dem Staunen der Hirten, hat alle Züge eines Märchens, das sich an Kinder in ihrer Überwältigungsbereitschaft richtet. Dieser Christus als Säugling ist nicht der Gott der Rache und der Strafe, sondern der Verkünder der Liebe und des Friedens auf Erden. Dass diese Botschaft von außen in die verderbte Welt der Menschen kommt, macht sie so attraktiv.
Das Herzstück einer jeden katholischen Messfeier ist die Wandlung. Bei der liturgischen Nachstellung des Letzten Abendmahles vor Christi Hinrichtung ist dieser in Brot und Wein real präsent, so der Kern des katholischen Glaubens. In der Kommunion feiern die Gläubigen seine Gegenwart in den Gaben, die er vor 2000 Jahren im Angesicht des Todes selbst heiligte. Dieses Paradox macht seine Abwesenheit erträglicher, wegen der lindernden Wirkung der Wiederholung feiern gläubige Christen (m/w/d) möglichst jeden Sonntag das Sakrament des Altares.
Neben der Hektik des Einkaufsrummels im Advent greift zugleich eine Sehnsucht nach Ruhe und Besinnlichkeit um sich, vielen Menschen reicht der ewige Konsum des Materiellen nicht aus. Sie spüren ein Bedürfnis nach Spiritualität in sich, das das Christentum ganz wunderbar bedient. In der vorwissenschaftlichen Zeit war Gott die Erklärung des Brandens der Naturgewalten, die Menschen brachten Opfer, um den Herrn milde zu stimmen. Im Zeitalter der Rationalität bietet der Glaube ein Geheimnis an, das größer ist als der soziale Wettbewerb um Status, Macht und Anerkennung. Für diese Wiederverzauberung der Welt muss Gott abwesend sein. Seine Verborgenheit dient unserem Schutz.