Ich glaube nicht an Psychologie, ich glaube an gute Züge. – Bobby Fischer, Schachweltmeister von 1972 bis 1975
Das unverzichtbare Werkzeug jedes halbwegs ambitionierten Schachspielers, von den Großmeistern zu schweigen, ist heute der Computer. Eine professionelle Ausstattung zur Vorbereitung und Analyse einer Partie, bestehend aus Datenbanken für Eröffnungen, Mittelspielstellungen, Endspielen und Partien sowie einer Benutzeroberfläche und einer Rechensoftware, ist für unter 1.000 Euro im Handel zu erwerben. Die aktuellen Prozessoren sind schnell und leicht und finden immer Platz im Handgepäck des fahrenden Volks der Schachspieler. Und dennoch behauptet sich in der zunehmend digitalisierten Welt des Schachs ein Medium, das den Ehrentitel „The World’s leading chess magazine“ vollkommen zurecht trägt. Die New in Chess erscheint achtmal im Jahr, die Ausgabe 4/22 ist gerade angekündigt.
Wer unbefangen ein Geschäft für Schachbedarf betritt und unversehens in der Ecke der Periodika landet, wird die New in Chess, kurz NiC, intuitiv vor der Konkurrenz wahrnehmen. Anders als die meisten einschlägigen Blätter kommt die NiC nicht im trüben Schwarz/Weiß mit der Anmutung einer hektografierten Schülerzeitung daher. Das Format liegt einen Fingerbreit unter DIN A4, das Heft mit seinen mittlerweile 108 Seiten ist durchgehend farbig; der Titel in Hochglanz lässt, unbeschadet seines Inhalts, visuell eher an die Vogue oder den Economist denken. Ein genau ausgeleuchtetes Portrait eines Gesichts aus der Szene, die überlaufende Typo passt farblich zu Kleidung, Teint und Haar, der Eindruck ist elegant, edel, wertig. Die NiC verweist stolz darauf, von Vereinsspielern in 116 Ländern gelesen zu werden, der Preis des Einzelheftes ist in Euro und Dollar auf dem Titel vermerkt. Die kleine Redaktion hinter dieser Publikation sitzt im niederländischen Alkmaar.
Ihre Anfänge reichen zurück ins Jahr 1968, als das niederländische Schaakbulletin als Mitteilungsblatt des hiesigen Schachverbandes gegründet wurde. In den 1970er Jahren stießen die heimischen Großmeister Jan Hein Donner und Jan Timman zur Redaktion, Umfang und Niveau der Zeitschrift stiegen spürbar an, sie lieferte neben aktuellen Turnierberichten auch profunde Partieanalysen. 1984 erschien die erste New in Chess, anfangs noch parallel auf Niederländisch und Englisch. Die baldige Exklusivität des Englischen als Lingua Franca sollte den überschaubaren Markt der Polder kolossal erweitern, außerdem sollte der beginnende Einsatz der Computer im Schachspiel seinen Niederschlag in der redaktionellen Arbeit finden. Die sowjetischen respektive russischen Weltmeister Anatoli Karpow und Garri Kasparow boten ihre regelmäßige Mitarbeit an, sodass die NiC auch unter internationalen Großmeistern ihre Leser fand.
Bei allen schachpolitischen Streitereien rund um die FIDE, auf die NiC mit ihrer Qualität können sich alle einigen. Spitzengroßmeister aus aller Herren Länder kommentieren ihre jüngsten Partien in der New in Chess, Jan Timman schreibt bevorzugt über Endspiele, Studien und Bobby Fischer, die beste Schachspielerin aller Zeiten, Judit Polgar, hat ihre Kolumne zur Feier des Angriffs, der Informatiker Matthew Sadler rezensiert aktuelle Schachliteratur, hinzu kommen historische Portraits mit seltenen Fotos. Auch wenn die Großmeister der globalen Gemeinde die NiC bei aller politischen Neutralität der Redaktion als ihr Leitmedium begreifen, so wendet sich die Zeitschrift doch hauptsächlich an Vereinsspieler, Patzer und Kiebitze. Für sie gibt es Taktikaufgaben zum Lösen, Tipps zum Trainieren der Entscheidungsfindung, Cartoons, vermischte Nachrichten und natürlich die kommentierten Großmeisterperlen zum Nachspielen und Genießen. Die verkaufte Auflage des Heftes wird vom Verlag mit 10.000 Exemplaren beziffert, die tatsächliche Zahl der Leser dürfte dank der Zirkulation in Clubs ein Mehrfaches davon betragen.
Vor allem die Berichte von Turnieren, Wettkämpfen und Olympiaden von Chanty-Mansijsk und Batumi über Wijk aan Zee, St. Louis und Stavanger bis nach Dubai und Wladiwostok geben dem Magazin eine entschieden kulturelle Note, die Reportagen könnten bei allem schachspezifischen Jargon samt der Notation und der Diagramme auch im Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung erscheinen. Das liegt auch daran, dass der langjährige Chefredakteur der NiC ausgebildeter Literaturwissenschaftler ist und Schach als Kulturtechnik präsentiert (die es ja auch ist). Lange bevor es durch die strengen Pandemiemaßnahmen Standard wurde, hat die Redaktion Interviews auch per Skype geführt, nur so konnte sie die über alle Zeitzonen verstreuten Großmeister zu Beiträgen akquirieren. Mit Erfolg, wie man sieht. Das Renommee der Zeitschrift ist so hoch, dass der Chefredakteur 2012 als offizieller Kommentator des WM-Matches zwischen Viswanathan Anand und Boris Gelfand in Moskau im Studio saß, Seite an Seite mit Wladimir Kramnik, besonderer Freund des Hauses und Exweltmeister.
Am ehesten in ihrer Bedeutung für die Schachwelt ließe sich die New in Chess mit dem Informator aus Belgrad vergleichen, auf den in den 1960er und 70er Jahren all jene abonniert waren, die die neuesten Eröffnungsideen suchten und das laufende Turniergeschehen verfolgten. Auch wenn heuer spezialisierte Webseiten und ständig aktualisierte Datenbanken diese Dienste in Echtzeit liefern, behauptet sich die NiC als Referenzprodukt der Szene am Markt. Längst hat sie sich zu einem anerkannten Verlag mit einem umfangreichen Fotoarchiv und einer florierenden Buchsparte entwickelt. Hier publizieren Großmeister, Trainer, Historiker und Journalisten zum ganzen Spektrum des Schachs: Zu letzten Trends komplexer Eröffnungen, zur Strategie der Behandlung klassischer Endspiele, zu jüngsten Turnieren und Wettkämpfen, zum Einfluss Künstlicher Intelligenz auf das Spiel der Könige und natürlich zu Methoden, das eigene Schach durch Mustererkennung zu verbessern. Denn es sind primär die namenlosen Nerds, die das Heft kaufen und lesen; sie nehmen die Berichte aus der Welt der Hautevolee ihres Spieles gerne zur Kenntnis, wollen aber selbst die Grenze von 2200 Elopunkten knacken.
Anfang 2021 veröffentlichte der Verlag eine besondere Nachricht in eigener Sache. Das an der Börse in Oslo notierte Unternehmen Play Magnus des norwegischen Weltmeisters Magnus Carlsen hatte die NiC zu einem nicht genannten Preis gekauft und seiner Gruppe einverleibt. Damit bekommt die Zeitschrift nicht nur frisches Geld, sondern auch unversehens digitale Schwestern wie chessable.com und chess24.com. Beide Webseiten bieten ihren (zahlenden) Mitgliedern neben der Liveübertragung aktueller Turniere und Wettkämpfe auch reichlich Trainingsmaterial für den Rechner, das Tablet und das Smartphone. Die NiC unterstrich, dass die redaktionelle Unabhängigkeit der Zeitschrift selbstverständlich gewahrt bleibe; allerdings hat sie im April dieses Jahres das Erscheinen des verlagseigenen Yearbook, das quartalsweise über Eröffnungsnovellen berichtete, eingestellt. Für ein politisches Engagement bleiben jedoch Kapazitäten: Der Verlag gibt auf eigene Rechnung ein Buch mit Beiträgen ukrainischer Großmeister heraus, um Geld für das geschundene Land zu sammeln.
Das Layout der New in Chess ist klassisch aufgeräumt im Drei-Spalten-Satz, manchmal gehen Fotos über den Satzspiegel hinaus, Schlagzeilen sind oft voller Wortwitz. Die B2C-Annoncen zeigen, wie hermetisch die Schachwelt offenbar ist: Geworben wird für Bücher und Bretter, Uhren und Software, Online-Kurse und offene Turniere. Nicht aber für Konsumgüter, Unterhaltungselektronik, Kommunikation oder gar Wein, Schmuck, Kleidung und Mobilität; langfristig orientierte institutionelle Sponsoren für das Schach sind notorisch schwer zu finden. Die Verarbeitung des Heftes ist solide, eine mehrstündige Bahnfahrt übersteht es ohne Gebrauchsspuren; viele Leser werden ihre Exemplare archivieren und sich so kostbare Analysen erhalten. Vielleicht ist die jetzige Generation der Abonnenten (vermutlich im Schnitt 55 plus) die letzte, die die NiC in der Printversion liest. Sollte das Magazin eine Zukunft haben (wofür der dauernde Boom des Schachs spricht), wird sie auf den Endgeräten ihrer Leser liegen. Gegebenenfalls wird dann die gedruckte Ausgabe zur Special Edition für Liebhaber.