Delius

  Da mir als Kind schon die Religion als Ideologie begegnet war, ahnte ich sehr deutlich, lange bevor ich das mit dürftigem Verstand begriff: dass die literarische Sprache der beste Schutz gegen Ideologie war. Selbst Nietzsche mit seinem protestantischen Pathos schien mir durch und durch Ideologie: Wirklich subversiv war nicht die Philosophie, nicht die Theorie, sondern die Poesie. – F. C. Delius, Als die Bücher noch geholfen haben

Vor ein paar Wochen noch ist er mit einer öffentlichen Wortmeldung in Erscheinung getreten. Nach über 50 Jahren Mitgliedschaft trat Friedrich Christian Delius aus der deutschen Sektion des Schriftstellerverbands PEN aus, zu sehr hatte ihn das unwürdige Gezerre um dessen aus dem Amt gedrängten Vorsitzenden verärgert und beschämt. Nun ist der Mann, der trotz mannigfacher Erfahrung in Gremien, Institutionen und Kollektiven aller Art immer ein Einzelgänger geblieben ist, im Alter von 79 Jahren gestorben.

Friedrich Christian („F. C.“) Delius wurde 1943 in Rom geboren, der Sohn eines Pfarrers wuchs in Hessen auf. Zum Studium der Germanistik ging der junge Mann nach Westberlin, wo er politisch und poetisch sozialisiert wurde. Im Bundestagswahlkampf 1965 gehörte er zum Wahlkontor der SPD mit ihrem Kandidaten Willy Brandt. Er promovierte 1970 bei Walter Höllerer, der Titel seiner Dissertation „Der Held und sein Wetter“ offenbarte bereits sein Talent für die genau treffende, verblüffende Pointe. F. C. Delius erlebte die Ausläufer der legendären Gruppe 47 noch, er war vorlesender Gast bei ihren Treffen 1964 in Sigtuna, 1966 in Princeton und 1967 in der Pulvermühle. 1972 entstand während seines Aufenthaltes in der Villa Massimo im Rom seine Satire auf den Siemens-Konzern, den er mit der Verfremdungstechnik à la Bertolt Brecht anhand eigener Dokumente vorführte. Den Prozess, den der Konzern gegen ihn anstrengte, gewann der Autor.

In den 1970er Jahren arbeitete F. C. Delius als Lektor zunächst bei Wagenbach, später bei Rotbuch. Diese Ausgründungen der Studentenbewegung waren selbstverständlich als Kollektive organisiert, die von ihren Beteiligten dauernde politische Bekenntnisse während der Jahre des RAF-Terrors forderten. Literarisch trat Delius in diesen Jahren als Förderer von DDR-Auroren im Westen auf, etwa von Thomas Brasch, Heiner Müller, Günter Kunert oder Christa Reinig. Seit 1978 lebte Delius als freier Schriftsteller am Lietzensee in Charlottenburg und in Rom. Für sein Werk ist er mehrfach ausgezeichnet worden, er erhielt 2004 den Fontane-Preis, 2007 den Joseph-Breitbach-Preis und schließlich 2011 den Georg-Büchner-Preis. Der lang aufgeschossene Delius, dessen ovales Gesicht auch im Alter kaum von Falten gekerbt war, gehörte zu den angesehensten Autoren deutscher Sprache der Gegenwart. Ende Mai 2022 erlag er einem schweren Herzleiden.

Delius hat in seinen Erzählungen und Romanen persönliche und autobiografische Elemente in zeithistorische Zusammenhänge gestellt. Allein die Titel seiner Bücher lassen einen Kosmos an Bildern vor den Augen der Leserin entstehen: „Mogadischu Fensterplatz“ und „Ein Held der inneren Sicherheit“ widmen sich der Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland durch den Terror der Roten Armee Fraktion; „Konservativ in 30 Tagen“ analysiert die Sprache der hegemonialen Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ; das „Bildnis der Mutter als junge Frau“, in nur einem Satz geschrieben, schildert das Rom der letzten Kriegsjahre, dabei einen berühmten Titel von James Joyce variierend; „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, führt den elfjährigen Friedrich Christian ins Berner Wankdorf-Stadion; „Die Birnen von Ribbeck“ schließlich, ein Echo auf Theodor Fontane, ist 1991 eine frühe literarische Auseinandersetzung mit der Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR.

Vom Geburtsjahr 1943 her ist F. C. Delius ein Repräsentant der Studentenbewegung oder der 68er. Allerdings hat sich dieser kluge, allumfassend belesene Kopf den Parolen und Pamphleten beharrlich entzogen; nach eigener Aussage hat er zehnmal mehr Jean Paul und Theodor Fontane gelesen denn Karl Marx und Rosa Luxemburg. Explizit politische Texte hat sein Werk denn auch nicht aufzuweisen, stattdessen kunstvoll komponierte Prosa und hie und da knappe Gedichte. Literarischer Stil war nie ein Anliegen der Linken, dort geht es zumeist um die richtige Haltung, das Engagement, um Agitprop, die Zustimmung zur Partei, die Erweiterung des richtigen Bewusstseins. Es ist kein Zufall, dass Delius nach dem Deutschen Herbst 1977 und vor Gründung der tageszeitung 1979 die Welt der Plena und Kollektive verlässt und auf eigene Rechnung schreibt. Bei allerdings überschaubarem Risiko: Ein Autor mit diesem Stilempfinden und dieser Fantasie muss keine Angst haben, nicht zu reüssieren. Kein Wunder, dass seine Bücher sich über die Jahrzehnte solide verkauften und bei der literarischen Kritik entsprechend gewürdigt wurden.

Dabei scheut F. C. Delius die großen Zeitläufte keineswegs, im Gegenteil. Der Roman „Mein Jahr als Mörder“ spielt 1968, als ein ehemaliger Richter des Volksgerichtshofes des III. Reiches freigesprochen wird. Ein junger Student hört die Nachricht im Radio und beschließt, diesen davongekommenen furchtbaren Juristen eigenhändig zu richten, hat dieser doch den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt. Der Arzt Georg Groscurth ist eine historische Figur, deren Leben und das seiner Familie vom Autor Delius um fiktive Elemente angereichert werden. „Die Groscurths wohnten am Kaiserdamm, Ecke Lietzensee/Witzlebenplatz, und an der anderen Ecke, nur drei Häuser dazwischen, das Kammergericht. Das passte wunderbar in das Schreckbild von deutschen Widersprüchen: der Schreibtisch des Mörders R. nur den berühmten Steinwurf weit von der Wohnung seiner Opfer entfernt, der Witwe Groscurth und ihrer Söhne.“ Dem Überthema der Deutschen, dem Umgang mit dem verbrecherischen Erbe des Nationalsozialismus, will sich auch Zeitgenosse Delius respektive sein Alter Ego im Roman nicht entziehen. Sein Jahr als Mörder endet schließlich friedlich, er kann vom Tötungsreflex lassen.

Mit F. C. Delius ist nun ein Solitär der deutschen Literatur gestorben, ein Dichter und Stilist, in der Eleganz seiner Sätze und Absätze mit dem Generationenkollegen Peter Handke vergleichbar. Den Titel seiner Erinnerungen „Als die Bücher noch geholfen haben“ hat er 2012 bei Handke entlehnt – und sich ordentlich geirrt. Auch heute helfen Bücher, das Leben zu ertragen, jeden Morgen die Arbeit zu beginnen, sich um die Familie zu kümmern, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen. Was, wenn nicht ein Buch, gäbe den Aufmerksamen, Zuhörenden, Schweigsamen, Schüchternen, Nachdenklichen den Atem des Weitermachens? Die Bücher von Friedrich Christian Delius, anfangs auf der Schreibmaschine, später am Rechner entstanden, sind Anker in den Fluten der Gedanken und Vorstellungen. Mag im Zeitalter der Blogs, der Zines, der Tweets und der Cloud der Griff ins Bücherregal eine Geste der Nostalgie sein – gesund und herzerfrischend ist sie allemal. Eine poetische Beschäftigung mit der Künstlichen Intelligenz wird F. C. Delius leider nicht mehr liefern können. Ein Algorithmus, der sich selbst programmiert und ästhetische Kriterien zu seiner Beurteilung gleich mitliefert, das wäre sein Stoff gewesen.