In manus tuas, domine, commendo spiritum meum. Redemisti nos, domine, deus veritatis. – Psalm 31
Gegen 16:00 Uhr bezieht Kerstin ihr Quartier im Gästehaus des Klosters. Ihre Sachen sind schnell verstaut im Schrank des kleinen Zimmers, das für die kommende Zeit von Weihnachten bis Neujahr ihr Zuhause sein wird. Als sie das Fenster hinaus zur Wiese vor der Anlage öffnet, dunkelt es bereits, eine tiefe Stille, getränkt in frischer Landluft, strömt in den Raum. Kerstin wäscht sich die Hände und kämmt sich die langen Haare, bevor sie den Stufenhalbkreis, der sie an das luftige Treppenhaus ihres Gymnasiums erinnert, hinunterschreitet. Die Glocken der Abtei rufen zur Vesper, mit Betreten des Kirchenraumes weiß sie sich angekommen.
Die Vesper, vom lateinischen vesper, Abend, entlehnt, meint in profaner Bedeutung eine nachmittägliche Zwischenmahlzeit, im sakralen Sinn hingegen das abendliche Gotteslob. Im schlichten Interieur der neoromanischen Kirche sitzen einige Gläubige, den Blick zum Altar gerichtet, sich im stillen Gebet sammelnd. Schließlich öffnet sich die hölzerne Verbindungstür zwischen dem Kloster und der Kirche und die Mönche betreten in einer gemessenen Prozession in Zweierreihen den Kirchraum. Vor dem Altar verneigen sie sich und nehmen im Chorgestühl zu beiden Seiten Aufstellung. Nachdem sich alle simultan bekreuzigt haben, stimmt der Kantor den Psalm an: Ostende nobis, domine, misericordiam tuam. Et salutare tuum da nobis. Dann setzt die Orgel stützend ein und der Chor antwortet: Gloria patri, et filio et spiritu sancto.
Das Leben der Benediktiner im Kloster ist streng rhythmisiert durch die Gebetszeiten. Die Vigil und die Laudes, die Nachtwache und das Morgenlob, sind hier frühmorgens zu einer Hore von einer guten Stunde zusammengefasst. Die Sext und die Non, das Gebet vor sowie nach dem Mittagessen, dauern etwa 15 Minuten, die Vesper vor dem Abendbrot misst gut 30 Minuten, während die Komplet vor dem Schlafengehen wieder 15 Minuten beansprucht. Die Vesper ist für Kerstin der ästhetische und spirituelle Höhepunkt des Tages, kommt hier doch die Kunst des gregorianischen Gesangs, für dessen Pflege die Benediktiner weithin berühmt sind, in seinem Wechsel zwischen Antiphon, Hymnus, Litanei und Versikel zur vollen Entfaltung. Das Üben dieser gesungenen Gebete gehört zum Klosterleben dazu, professionelle Musiker unter den Mönchen unterweisen ihre musikalischen Laienbrüder in dieser Praxis des Preisens.
Eingangs der Kirche liegt das Vesperale Monasticum aus. Dieses zweisprachige Liederbuch erlaubt es den Gästen, den lateinischen Gesang der Mönche mitzuverfolgen und en passant die deutsche Übersetzung zu erfassen. Zum Glück, denkt Kerstin, begleiten die Gäste den Gesang der Mönche nur mit stummen Lippen und stimmen nicht ein in den Gesang, den sie nur stören könnten mit ihren alltäglichen Organen. Kerstins Blick geht nach oben in das Gewölbe des Chores, dort müssen sich die Töne, getragen vom sparsam dosierten Orgelspiel, sammeln und an der beige getünchten Decke ablagern. Das würde erklären, warum auch im leeren Kirchenraum immer ein kaum vernehmliches Summen in der Luft liegt von Klängen, die nicht aufhören zu schwingen. Für Kerstin ein schlagendes Zeichen für die Heiligkeit dieses Ortes.
Die Benediktinerabtei im westlichen Münsterland ist eine späte Gründung ausgangs des 19. Jahrhunderts. Nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen wurden auch in den preußischen Rheinprovinzen Klöster reihenweise säkularisiert und aufgelöst. Dass sich hier in der Abgeschiedenheit Westfalens überhaupt Mönche ansiedelten, war einer Schenkung dreier Geschwister zu verdanken, die ihren Grund der Kirche vermachten mit der Auflage der Gründung eines Klosters. Die Anlage wurde in mehreren Abschnitten gebaut, die jüngste Umgestaltung erfolgte in den 1980er Jahren durch den Architekten Josef Paul Kleihues, der im nahegelegenen Dülmen ein Büro betrieb. Kurz vor Ausbruch des II. Weltkriegs und dann noch einmal Ende der 1960er Jahre lebten hier knapp 100 Mönche, heute sind es noch 35.
Über die Geschichte der Abtei, deren Kirche aus Geldmangel bis heute nicht fertig geworden ist und noch immer einen Abschluss nach Osten hin entbehrt, zu reden heißt auch, über ihre Zukunft nachzudenken. Die Mönche im Chor leben vielfach seit Jahrzehnten hier, sie sind alt geworden und mit der Zeit gebrechlich, mit 40 Jahren gilt man im Konvent als jung. Über diese demographische Bedrohung ihrer Existenz reden die Mönche in freimütiger Offenheit. In der heutigen Zeit der sofortigen Wunscherfüllung und digitaler Verheißungen aller Art macht sich kaum ein junger Mann auf den Weg Gottes, der ihn auch ins Kloster führen könnte. So verfügt die Abtei über einen Novizenmeister, der aber keine Novizen zu unterweisen hat. Ohne Zuschüsse des Bistums, so ein bemerkenswertes Bekenntnis in kleiner Runde, könnte die Abtei nicht in der gegenwärtigen Form fortbestehen. Wollte man sich durch Verwöhnangebote andere, finanziell potentere Zielgruppen als Gäste erschließen, hätte das unweigerlich einen Verlust an Ruhe, Klarheit und Abgeschiedenheit zur Folge, um deren willen so viele Gläubige herkommen.
Kerstin verfügt über keine musikalische Schulung, ein Instrument spielt sie nicht, Noten lesen kann sie ebenfalls nicht. Dessen ungeachtet wirkt bei ihr Musik als Schlüssel zur Seele, unterwegs in der Natur singt sie gern, ohne Angst, es könnte schief klingen. Beim Studium des Vesperale Monasticum kann sie sich die lateinischen Passagen weitgehend erschließen durch das Gegenlesen der daneben stehenden deutschen Übersetzung. Die verwendete Notenschrift allerdings, so viel ist selbst ihr klar, entspricht nicht der einschlägigen Tonleiter. Es sind nur vier Linien, ein Violin- oder Bassschlüssel an deren Beginn fehlen. Die Noten sind sämtlich halslos, offen ist keine. Die Tonzeichen basieren nicht auf einem zum Oval gedehnten Kreis, sondern auf einem Quadrat, das nach unten in zwei angedeutete Spitzen ausläuft. Diese Abbildung der Töne nimmt sie ebenso intuitiv auf wie den Gesang der Mönche, diese treffen ihr Herz, denn regelmäßig kommen ihr die Tränen.
Die Vesper der Benediktiner ist thematisch eine Kombination aus Altem und Neuem Testament. Die zum Vortrag kommenden Psalmen zählen zu den besonders poetischen Passagen des Alten Testamentes, die Kurzlesungen kommen ganz überwiegend aus den paulinischen Briefen des Neuen Testaments mit ihrem eindringlichen Befehlston. Einen Altardienst gibt es ebenso wenig wie eine Lesung am Ambo, diese Elemente sind der Eucharistiefeier vorbehalten, die täglich morgens zelebriert wird. Die einzige Kommunikation zwischen den Mönchen und der Gemeinde ist das Spenden des Weihrauchs durch den Ministranten, verbunden mit einem Senken des Kopfes als Zeichen der Dankbarkeit. Schließlich bekennen die Mönche das Kyrie eleison, die Feier schließt mit dem Beten des Pater Noster durch den Abt. Der Auszug der Mönche wird begleitet durch eine Improvisation auf der Orgel, deren letzter Klang als Echo zwischen den Säulen aus Sandstein schwebt.
In einem Zustand der Ergriffenheit verlässt Kerstin die Kirche, um nun zum Abendbrot im Gästehaus des Klosters zu gehen. Sie fühlt sich durch den Gesang der Mönche beschenkt, während ihres Aufenthaltes wird sie keine einzige Vesper versäumen, zu groß ist das Bedürfnis nach diesem künstlerischen Genuss. Sie vermag sich nur schwer vorzustellen, nach dieser vorbildlichen Demonstration einer Feier Gottes an einer gewöhnlichen Messe ihrer Heimatgemeinde teilzunehmen, zu banal erscheinen ihr deren Riten, zu abgeschmackt die Predigt, vom missratenen Gesang der Gemeinde zu schweigen. Womöglich befinden sich die Mönche, die ihr ganzes Leben dem Gottesdienst widmen, doch näher zu Gott als die Externen. Jedenfalls wird Kerstin erneut deutlich, dass der Glaube und das Gebet nicht freischwebend gelebt werden können, dass sie neben einer Gemeinschaft auch eines heiligen Ortes bedürfen, wie es dieses Kloster definitiv ist. Halleluja.