Vincent

Im Januar gehört das Schach traditionell nach Wijk aan Zee. Das kleine Fischerdorf unweit Amsterdam zählt seit 1938 zum internationalen Schachzirkus. Anfangs als reines Belegschaftsturnier des dort ansässigen Stahlkonzerns gedacht, hat es sich nach dem II. Weltkrieg zu einem Turnier der Spitzenklasse entwickelt. Den Organisatoren gelingt es immer wieder, eine reizvolle Mischung aus etablierten Großmeistern der Elite und jungen aufstrebenden Profis aufzubieten. In diesem Jahr gibt der junge deutsche Schachspieler Vincent Keymer sei Debut an der niederländischen Nordseeküste.

Vincent Keymer wurde 2004 in Mainz geboren und erlernte das Schachspiel im Alter von fünf Jahren von seinen Eltern, beides Musiker. 2017 wurde er Internationaler Meister, 2019 holte er als bisher jüngster deutscher Schachspieler den Titel eines Großmeisters. Keymer, der seit einigen Jahren mit dem ehemaligen ungarischen Vizeweltmeister Peter Leko trainiert, machte sein Abitur im Frühjahr 2022 und ist seitdem Schachprofi, als solcher wird er von der Grenke AG gesponsert. Bei der im Dezember 2022 im kasachischen Astana ausgetragenen Schnellschachweltmeisterschaft holte er die Silbermedaille, seine aktuelle Elozahl liegt bei 2696.

Der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen konnte das Turnier in Wijk aan Zee bisher achtmal gewinnen und zählt auch in diesem Jahr zu den Favoriten auf den Sieg, ebenso wie Fabiano Caruana, Levon Aronian und Wesley So. Neben Keymer sind einige der indischen Youngster am Start, die bei der Olympiade in Chennai im August vergangenen Jahres begeistert aufspielten und sensationell Bronze holten, allen voran Dommaraju Gukesh, Arjun Erigaisi und Rameshbabu Praggnanandhaa. Unvergessen die schmerzlichen Bilder, als Gukesh am 1. Brett gegen Usbekistan auf Gewinn stand, den richtigen Weg zum Sieg vertändelte und dann in einem immer noch remislichen Endspiel einen Springer einstellte. Fassungslos über diesen Patzer, der womöglich sein Team die Goldmedaille kostete, ließ der 16 Jahre alte Gukesh die Uhr ablaufen und wollte am liebsten vor Traurigkeit im Boden versinken.

Das erfrischend offene Schach dieser jungen Spieler führt allerdings in Wijk bisher nicht durchweg zum Erfolg. Gukesh hat in den ersten sechs Runden dreimal verloren und dreimal remisiert, gleiches gilt für Vincent Keymer. Gegen den Weltmeister Magnus Carlsen spielte der junge Deutsche unter seinem Niveau, als ob ihn allein die Gegenwart seines berühmten Gegenübers einschüchterte. Er bekam mit Weiß nach 1. d4 die dynamische Grünfeld-Indische Verteidigung vorgesetzt, in deren Verästelungen er sich verhedderte. Schwarz dominierte mit seinem mächtigen Königsläufer das ganze Brett und setzte seine Bauern im Zentrum in Bewegung. Ein Qualitätsopfer brachte ihm einen gefährlichen Freibauern, den er schließlich technisch vollendet in einem Turmendspiel zum vollen Punkt konvertierte. Solange Carlsen so spielt, braucht das Schach vor der Software Leela Zero keine Angst zu haben.

Dessen ungeachtet bedient Vincent Keymer die Sehnsüchte der deutschen Schachfans. Anfang der 1980er Jahre spielte Robert Hübner im Halbfinale der Kandidatenmatches um die Weltmeisterschaft, in den 1960er Jahren zählten Wolfgang Uhlmann (Ost) und Wolfgang Unzicker (West) zur erweiterten Weltspitze, und Anfang des 20. Jahrhunderts regierte mit Emanuel Lasker der bisher einzige Deutsche auf dem WM-Thron. Mit diesen unausgesprochenen Erwartungen an seine Person geht Keymer bisher gelassen um. In Wijk kann er sich erstmals mit den Besten seines Faches messen, er wird lernen, sich von einer Niederlage nicht brechen zu lassen. Mit dem langen Denkformat in Wijk kommt er am Brett bestens zurecht, keine Kleinigkeit zu einer Zeit, in der die meisten Turniere online mit verkürzter Bedenkzeit stattfinden und so notgedrungen mehr Fehler produziert werden.

Mit dabei beim Tata Steel Chess Festival, so genannt nach seinem indischen Sponsor, ist auch der chinesische Großmeister Ding Liren, der so lange unter der absurden Corona-Politik seines Landes gelitten hat und der nun im April mit dem Russen Ian Nepomniachtchi in Astana um die WM im klassischen Schach spielen wird, nachdem der amtierende Champion Magnus Carlsen schlicht keine Lust mehr hat auf ein weiteres kraft-, nerven- und zeitraubendes Match samt monatelanger Vorbereitung. Ding spielt solide und präzise wie eh und je, überraschend greift er mit Weiß zu 1. e4, wohl um seinen kommenden WM-Gegner in der Vorbereitung zu verwirren, ist er doch für die geschlossenen Eröffnungen bekannt. Nach den bisherigen Partien rangiert Ding mit 50 Prozent der möglichen Punkte im Mittelfeld, er wird sich einfach gern wieder unter Schachspieler mischen nach den Jahren des mörderischen Lockdowns.

Endlich ist in der Mehrzweckhalle De Moriaan das lebhafte Turnierleben wieder möglich. Auf der separaten Bühne sitzen sich die Großmeister der Masters- und der Challengers-Gruppen gegenüber, in eng bestuhlten Reihen spielen Krethi und Plethi im Open gegeneinander, zusätzlich sind viele Kiebitze vor Ort, um ein Foto von ihren Helden zu erhaschen. Wijk ist das älteste der Traditionsturniere im internationalen Rahmen, es ist eine Ausnahme mit seinen 14 Teilnehmern und damit 13 Runden, außerdem ist die Leistungsdichte ausnehmend hoch. Sichtlich gelöst strömen die zahlreichen Schachfans aus den Niederlanden und dem benachbarten Deutschland, darunter viele Kindern und Jugendliche, in die Halle, die im charakteristischen Blau des Sponsors gehalten ist. Dass Vincent Keymer eine Einladung in diese erlesene Gesellschaft erhalten hat, ist Anerkennung und Ansporn zugleich.

Der wohltuende und dabei humorvolle Kommentar der Großmeister Peter Svidler und David Hovell macht das Verfolgen der Partien am heimischen Rechner zu einem Genuss, man hat während der Analysen den Eindruck, das Geschehen auf den Brettern tatsächlich zu verstehen. Die Freude der Kommentatoren und der Funktionäre über das Turnier springt über das Netz ins Wohnzimmer über, vermutlich besser als bei der anstehenden Weltmeisterschaft. Diese ist nach dem Rückzug der klaren Nummer Eins der Schachwelt kupiert, die dort gespielten Partien werden vor allem Neutralisierungskämpfe sein zwischen den mit Rechenkraft hochgerüsteten Analyseteams der beiden Kontrahenten. In Wijk hingegen kommt echtes Vollblutschach aufs Brett, bei den Gesprächen nach den Partien scheint die Göttin des Schachs Caissa sich mit den Spielern über das Spiel zu freuen.

Es ist bitter für Vincent, in der sechsten Partie die dritte Niederlage einzufahren, dieses Mal gegen den führenden Theoretiker Wesley So. Machte Keymer in der Eröffnung in der Spanischen Partie mit Schwarz noch eine gute Figur, spielte er fahrig im Mittelspiel und verdarb die Position im Endspiel. Der junge Mann, der er geworden ist, blickt entgeistert auf das Brett und realisiert in verlorener Stellung, was er noch lernen muss, um in der dünnen Luft der Weltspitze atmen zu können. Das weiche Gesicht der Kindheit ist binnen weniger Jahre einem definierten Antlitz mit Bartschatten gewichen, der junge Vincent dahinter lebt zur Freude seiner Anhänger auch im gedeckten Anzug weiter. Er hat das Potenzial, es bis nach ganz oben zu schaffen, wie auch die indischen Wunderbuben Gukesh, Praggnanandhaa und Erigaisi. Die äußeren Bedingungen stimmen, die Motivation dafür zu arbeiten ebenso. Entscheidend ist, dass er mit Freude bei der Sache bleibt und zeigt, wie gern er Schach spielt. In Wijk liegt die Hälfte der Partien noch vor ihm – Ausdauer, Regeneration und Geduld sind hier unverzichtbare Faktoren für ein gutes Ergebnis.