Volksfeind

  Von einigen KZs gibt es allerdings genügend Überreste, die es erlauben,
sich ein Bild zu machen. Das gilt nicht für Russland, wo nicht sosehr eine gezielte als eine natürliche Vernichtung vieler Lagerorte stattgefunden hat.

Renate Lachmann, Lager und Literatur

Der Große Terror in der Sowjetunion begann bereits 1934 mit dem Mord an Sergey Kirow. Der Leningrader Parteisekretär wurde unter nicht vollends geklärten Umständen von einem Einzeltäter erschossen. Der unumschränkt herrschende sowjetische Diktator Josef Stalin nahm das Attentat auf seinen Günstling zum Anlass, mit aller Härte gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vorzugehen. Eine beispiellose Welle der Denunziation und „Säuberung“ von Partei, Militär, Wissenschaft und Bürokratie nahm ihren Anfang, sie gipfelte im Jahr 1937 mit den berüchtigten Schauprozessen gegen altgediente Bolschewiken aus der Zeit der Oktoberrevolution. Sie wurden als „Volksfeinde“ angeklagt und der Sabotage, der Verschwörung, der Spionage und der Konterrevolution bezichtigt. Die alten Weggefährten Josef Stalins wurden erschossen, zahllose Kader wurden in die Arbeitslager nach Sibirien deportiert.

Jewgenia Ginsburg geriet wie ungezählte Andere in den Mahlstrom der Vernichtung. Sie wurde 1904 in eine jüdische Familie in Moskau geboren, ihre Eltern hatten eine Apotheke. Sie studierte Geschichte und Pädagogik, wurde Mitglied der KPdSU und lehrte an der Universität von Kasan. Im Jahr 1937 wurde sie angeklagt wegen „Terrorismus“ und zu zehn Jahren Einzelhaft verurteilt. Nach zwei Jahren im Gefängnis in Jaroslawl wurde sie 1939 an die Kolyma im äußersten Nordosten Sibiriens deportiert, wo sie bis 1947 in wechselnden „Besserungsarbeitslagern“ Knechtschaft leisten musste. Nach Verbüßung ihrer Lagerhaft und der anschließenden Verbannung kehrte sie nach Moskau zurück und wurde 1955 rehabilitiert. Sie arbeitete als Redakteurin und schrieb über ihre Erlebnisse, konnte diese aber in der Sowjetunion nicht veröffentlichen; ihre Texte zirkulierten im Samisdat. 1967 erschien der erste Teil ihrer Memoiren auf Russisch in Italien, daraufhin wurde sie in Dissidentenkreisen berühmt. Sie starb 1977 in Moskau, die Publikation des zweiten Teils ihrer Memoiren 1979 ebenfalls in Italien hat sie nicht mehr erlebt.

Josef Stalin war mit der Entmachtung seines Hauptrivalen Lew Trotzki seit 1928 faktisch der Alleinherrscher der UdSSR, die wichtigen Posten in Politbüro und Kommissariaten hatte er mit devoten Kumpanen besetzt, die einen grotesken Personenkult des Generalsekretärs inszenierten. Mit aller Gewalt des Fünfjahresplans peitschte Stalin die junge Sowjetunion auf den Weg vom rückständigen Agrarstaat zur Industrienation. Bei der Enteignung der Bauern und der Zwangskollektivierung in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre nahm die Parteiführung den Hungertod („Holodomor“) von Millionen Menschen achselzuckend in Kauf. Parallel hierzu wurden Hundertausende Gefangene zur Arbeit auf pharaonenhaften Großbaustellen versklavt; sie mussten einen Kanal zwischen dem Weißen und dem Baltischen Meer ausheben, Eisenbahnschwellen verlegen und Straßen bauen. Zur selben Zeit begann die Ausbeutung der gewaltigen Goldvorkommen der sibirischen Kolyma.

All das wurde Jewgenia Ginsburg erst Jahrzehnte später klar. Als überzeugte Kommunistin leistete sie als Dozentin ihren Beitrag zum Aufbau einer, wie sie glaubte, klassenlosen Gesellschaft. Völlig unvorbereitet traf sie 1937 die Anklage wegen „Terrorismus“. Ihr wurde vorgeworfen, bei den „trotzkistischen“ Äußerungen eines Universitätskollegen nicht „wachsam“ genug gewesen zu sein und diese nicht gemeldet zu haben. Der Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches definierte ein solches Verhalten als „konterrevolutionär“ und stempelte dergestalt die Angeklagten (und später Verurteilten) zu Volksfeinden. Die Prozesse jener Jahre waren eine juristische Farce, die Angeklagten hatten keinen anwaltlichen Beistand, „Geständnisse“ wurden auf der Basis von Folter erpresst. Die Gefängnisse waren überfüllt mit Intellektuellen, Funktionären, Ingenieuren und Journalisten zum einen, Arbeitern, Bauern, Landstreichern und Prostituierten zum anderen. In der Raserei der Jahre 1936/38 wurden Millionen Menschen völlig willkürlich verhaftet, Stalins Geheimpolizei witterte überall Verrat und Abweichlertum, die Zahl der Exekutierten respektive zur Zwangsarbeit Verurteilten stieg exponentiell an.

Über ihren Leidensweg in der kommunistischen Hölle (auf Deutsch unter den Titeln „Marschroute eines Lebens“ und „Gratwanderung“ publiziert) legt Jewgenia Ginsburg detailliert Zeugnis ab. Sie beschließt am Tag ihrer Verurteilung, das ihr Angetane im Gedächtnis aufzuheben und „später“ darüber zu schreiben – dieser Entschluss gibt ihr für die kommenden Jahre immer wieder Energie. Sie berichtet von ihrer Fassungslosigkeit bei der Verhaftung, den Prügeln während der Verhöre, ihrer Weigerung zu gestehen, der Enge, dem Gestank und dem Dreck der Gefängniszellen, dem Hoffen auf die Aufklärung eines „Missverständnisses“ bei gleichzeitiger Linientreue, der Partei und ihren „Beweisen“ über jede Nachvollziehbarkeit hinaus Glauben zu schenken. Sie beschreibt, wie sie sich durch Deklamieren kostbar gewordener geliebter Gedichte und Epen von Alexander Puschkin, Alexander Blok, Anna Achmatova und Boris Pasternak geistig am Leben hält. Mit dieser Nahrung kann sie Einsamkeit, Kälte, Beleidigungen und Schlafentzug überstehen. Als Angehörige der Intelligenzija ist sie es gewohnt, mit Worten und Gedanken umzugehen; in der Öde des Gefängnisses kann sie von diesem Vermögen zehren.

Doch gerade deswegen wird ihr die Deportation ins Lager an der Kolyma zur Erfüllung eines Alptraums. Nach einer wochenlangen Zugfahrt nach Wladiwostok, eingepfercht im Waggon mit siebzig anderen Frauen ohne Wasser und unter katastrophalen sanitären Bedingungen, wird sie halbverhungert und fiebernd nach Magadan verschifft, dem Einfallstor der Kolyma. Im Lager trifft sie auf Frauen, die als ordinäre Kriminelle verurteilt sind und in der Hierarchie über den „Volksfeinden“, den wegen politischer Vergehen Inkriminierten, stehen. Diese Kriminellen sind für Ginsburg keine menschlichen Wesen: Sie fluchen den ganzen Tag, schlagen einander und vor allem die Politischen, sie onanieren, urinieren und kopulieren öffentlich bar jeder Scham, sie stehlen, denunzieren und töten ohne Hemmung. Analphabetisch wie sie sind, pflegen sie einen instinktiven Hass auf alle Gebildeten, die sie nach Kräften schikanieren. Und unter ihnen ist Ginsburg in der Baracke zu leben verdammt.

Doch sie hat Glück, dass sie nicht zur Fron in die Goldminen geschickt wird; diese Arbeit macht aus den kräftigeren Männern binnen einer Saison ausgezehrte Wracks mit glänzenden Hungeraugen. Ginsburg muss einige Monate im Forst und im Steinbruch schuften, bekommt aber dank der Protektion eines Arztes eine leichtere Arbeit in der Kinderkrippe des Lagers und eine kleine Kammer zum Schlafen. So ist sie vor den Schlägen der Wachen sicher und muss nicht bei 50 Grad Frost in die Taiga. Diese begehrte Position, eigentlich nicht erreichbar für einen „Volksfeind“, lässt sie das Inferno des Lagers überleben. Als sie später als Arzthelferin arbeitet, sieht sie die halbtoten, ausgemergelten Sklaven mit ihren vor Skorbut blutigen Kiefern in ihren stinkenden Lumpen in die Ambulanz schwanken, um wenigstens einen Tag nicht wie Sisyphos zum Stein zu werden. Irreal hohe Arbeitsnormen und an deren Erfüllung gekoppelte kleine Essensrationen laugen die Verdammten im Rekordtempo aus, der Blick wird irre, die spitzen Knochen stoßen durch die graue Haut.

Verzweifelt registriert sie, dass die mörderische Zwangsarbeit ohne Maschinen, bei entsetzlich schlechter Verpflegung und der Witterung unangemessener Kleidung aus Menschen binnen Wochen geschlechtslose Gespenster macht, deren Siechtum und Sterben von der Lagerleitung hingenommen wird, ja intendiert ist – es kommen ja stetig neue Häftlinge nach, die Ressource Arbeitskraft vermehrt sich von selbst. Ihr selbst ist es wichtig, ihre weiblichen Rundungen durch das dauernde Hungern nicht vollends zu verlieren, ihr Büstenhalter avanciert ihr zum Signum ihrer Weiblichkeit. Als Frau ist sie in einer ambivalenten Situation: Sie ist zum einen kaum verhohlenen sexuellen Drohungen bis zur Vergewaltigung durch Häftlinge und Wachposten ausgesetzt, zum anderen kommt sie eher in den Genuss leichterer Arbeiten wie etwa auf einer Geflügelfarm, im Gewächshaus oder als Putzfrau.

Ginsburg ist absorbiert vom täglichen Überlebenskampf, die Reflexion ihrer Situation als Häftling und Volksfeind erfolgt schleppend. Wie viele andere auch sieht sie in ihrem Prozess einen Exzess Stalins, ohne an der Legitimität der Sowjetmacht zu zweifeln. Erst mit den Jahren reift in ihr die Ahnung, Opfer eines verbrecherischen Regimes zu sein, das keineswegs das kommunistische Paradies errichtet, sondern ein wahnhaftes Projekt der Unterjochung ganzer Völker unter Aufbietung offenen Sadismus verfolgt. Bis zum Ende sucht Ginsburg schizophren die Schuld bei ihrem individuellen Fehlverhalten und nicht im verkommenen Charakter der Staats- und Parteiführung: „Denn nicht nur der hat getötet, der zugeschlagen hat, sondern auch jene, die das Böse zugelassen haben, ganz gleich wodurch: durch das gedankenlose Wiederholen gefährlicher Theorien; das wortlose Heben der rechten Hand, das halbherzige Schreiben von Halbwahrheiten. Mea culpa … Und immer häufiger scheint mir, daß sogar achtzehn Jahre der Hölle auf Erden nicht ausreichen, diese Schuld zu sühnen.“

Mit Glück, List, Beharrlichkeit und Mut kann sie schließlich die Zeit im Lager überleben, ohne körperlich versehrt und seelisch zerstört zu werden. Sie findet an der Kolyma eine neue Liebe, einen inhaftierten deutschen Arzt, der ihr mit seinem katholischen Glauben imponiert und mit dem sie ein kleines Waisenmädchen adoptiert. Nach ihrer Freilassung kann sie gegen alle Widerstände erwirken, dass ihr jüngerer Sohn sich bei ihr in Magadan ansiedeln darf (der ältere verhungerte während der Leningrader Blockade). Doch die Absolution bekommt sie erst im Jahre 1955, als es während des Tauwetters unter Nikita Chruschtschow zu einer Welle an Rehabilitationen ehemaliger „Volksfeinde“ kommt: „Das Verfahren wird mangels eines strafbaren Tatbestandes eingestellt“, heißt es in der Urkunde, die ihre Verurteilung des Jahres 1937 aufhebt, sie erhält ihre Freiheit und ihre bürgerlichen Rechte zurück. Und als sie obendrein wieder in die Partei aufgenommen wird, gehört sie endlich wieder ganz „dazu“.

Jewgenia Ginsburgs Lageraufzeichnungen, aus dem Gedächtnis in den 1960er Jahren entstanden und trotz der Kompositionsanleihen des Romans der unbedingten „Wahrheit“ verpflichtet, stehen gleichrangig neben den einschlägigen Werken Fedor Dostoevskis, Anton Cechovs, Alexander Solschenizyns und Warlam Schalamows. Sie erzählt ihre Odyssee durch die Gefängnisse, Baracken und Fabriken des Todes mit einem präzisen Staunen darüber, zu welch grundlosen Grausamkeiten Menschen imstande sind. Neben schwer erträglichen Schilderungen des schrecklichen Lageralltags gelingen ihr lebhafte Skizzen der Schönheit der Natur an der Kolyma, die den Menschen nicht braucht; ihr Sinn für die Ästhetik des Sonnenaufgangs über dem Golf von Nagajewo stiftet ihr eine Atempause im monotonen Rhythmus der Erschöpfung. Ginsburg hat ihren Bericht verfasst, um an den Horror des „Archipel Gulag“ zu erinnern. Dieser war kein Unfall einer übereifrigen Führung, sondern konstitutives Element eines Staates, der dem einzelnen Leben seiner Untertanen keinerlei Wert beimaß.

Die Archivrevolution der Perestroika der späten 1980er Jahre hat die subjektiven Befunde von Ginsburg und anderen weitgehend bestätigt – allerdings konnte sie nicht verhindern, dass der Gulag im Gedächtnis des heutigen Russland verblasst, während der Große Vaterländische Krieg und mit ihm Josef Stalin Gegenstände aktiver Ikonographie geworden sind. Die Verbrechen des Gulag sind in der UdSSR nie Gegenstand einer juristischen Aufarbeitung geworden; kein Minister, kein Kommandant, kein Tschekist und kein Wachmann mussten sich je vor Gericht für ihre Befehle und Taten verantworten. Die Minen, Schienen, Zelte und Türme der Kolyma sind von der Natur zerrieben, die steinerne „Maske der Trauer“ wacht über Magadan. Ihre Leiden in Sibirien, die ihr die schönsten Jahre weiblicher Lebensblüte gestohlen haben, konnte Jewgenia Ginsburg nicht vergessen. Doch sie ist anlässlich eines Gespräches mit jungen Leuten in einem Moskauer Café über ihre Verbannung gerührt darüber, „daß nicht alle, bei weitem nicht alle, der großen Lüge geglaubt haben, daß in vielen Herzen, besonders den jungen, heimlich das Mitgefühl für die schuldlos Mißhandelten wohnte“.