Aus dem Jura nach Berlin und wieder zurück. Aus kleinen Verhältnissen in die Boheme der Kunstwelt, nach dem Ende hoher Hoffnungen ein zurückgezogenes Leben als möblierter Herr, das letzte Lebensdrittel als Anstaltspatient zubringend. Der Schweizer Dichter Robert Walser (1878 – 1956) ist ein Wiedergänger des Taugenichts, der sich die Welt erwandert, mit offenen Augen für das Abseitige des Lebens, dabei träumend Beiträge zu einer Soziologie des Alltags liefernd.
Robert Walsers literarischer Stil ist heiter und verspielt, seine Texte sind voller schweizerischer Diminutive, der Satzbau ist schlicht, das Vokabular überschaubar. Nicht immer ist klar, ob er die Dinge, über die er schreibt, parodiert oder wörtlich meint. Für den Schweizer Autor Matthias Zschokke ist er eine „Missverständnisfalle“. Seine Texte lesen sich mitunter so meditativ wie Haikus, zwischen den Zeilen blitzt die Liebe zum Paradox. Dabei scheint er sich der Beachtung durch ein Publikum zu versperren: „Wer mich liest, und wie man mich liest, kümmert mich nicht. Schreiben bedeutet für mich eine Erholung, eine Art Schlafmittel.“
Robert Walser wurde 1878 in Biel (frz. Bienne) in der Nordwestschweiz als siebtes von acht Kindern geboren; das Progymnasium musste er trotz bester schulischer Leistungen verlassen, da die Familie sich seinen Schulbesuch nicht länger leisten konnte. 1892 begann er eine Ausbildung bei der Berner Kantonalbank, 1894 starb die an Depressionen leidende Mutter. 1895 zog Walser nach Basel und verdingte sich als Kommis im Kontor; am Stuttgarter Hoftheater scheiterte er im Vorsprechen beim Versuch, als Schauspieler angenommen zu werden.
Es folgten Nomadenjahre mit Stationen in Biel, Bern, München, Berlin, Zürich, Thun, Winterthur und Solothurn bei häufig wechselnden Arbeitgebern; neben seinem Brotberuf hing er der Sehnsucht nach, als freier Schriftsteller zu reüssieren. 1904 konnte er den Erzählband „Fritz Kochers Aufsätze“ bei Insel veröffentlichen, 1905 zog er nach Berlin, wo er zunächst bei seinem als Illustrator und Bühnenbildner anerkannten Bruder Karl lebte, der ihn in die Welt des Theaters und der Kunst einführte und ihn mit den Verlegern Samuel Fischer und Bruno Cassirer bekannt machte.
Sein Debüt an der Spree verlief vielversprechend. Er publizierte die Romane „Geschwister Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909), von der Kritik gelobt und von Kollegen wie Kurt Tucholsky und Hermann Hesse gepriesen. Dank der Protektion seines Bruders Karl war Robert Walser zeitweilig Sekretär der Künstlervereinigung Berliner Secession. Seine Romane und seine Feuilletons thematisierten das Leben im raschen Takt der großen Stadt, aus der Sicht der Angestellten, Dienstboten und Lakaien, dabei auf eigene berufliche Erfahrungen rekurrierend: „Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“
1913 ging er in die Schweiz zurück und lebte zunächst bei seinem Vater, der im Jahr darauf verstarb. Walsers wohnte als Aftermieter in Mansarden und schrieb für Schweizer und deutsche Zeitungen. 1921 zog er nach Bern und nahm eine Stelle im Archiv an. Er veröffentlichte sporadisch, vernichtete etliche Entwürfe und schrieb für das Notizbuch. 1929, auf dem Höhepunkt einer finanziellen und seelischen Krise, wurde er in die Nervenheilklinik Waldau (wo schon sein Bruder Ernst 17 Jahre hospitalisiert war) eingewiesen, wo er als Patient mit attestierter Schizophrenie lebte, in der Anstaltsgärtnerei arbeitete und mit dem Schachspiel begann. 1933 wurde Walser gegen seinen Willen in die psychiatrische Klinik Herisau verlegt, hier versiegte sein Schreiben endgültig.
Walser fühlte sich im Winter besonders wohl und fing in zahllosen Texten den Zauber der dunklen Monate ein, dem Schauspiel des Schneefalls gab er eine märchenhafte Note: „Alle Farben, rot, grün, braun und blau, sind vom Weiß eingedeckt. Wohin man schaut, ist alles schneeweiß, wohin du blickst, ist alles schneeweiß. Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es. Sich im Schnee schmutzig zu machen, dürfte sicher ziemlich schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich sein. Alle Tannenäste sind voll Schnee, beugen sich unter der dicken weißen Last tief zur Erde herab, versperren den Weg. Den Weg? Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, daß man auf dem rechten Weg sei. Und still ist es. Das Schneien hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und Schälle eingeschneit. Man hört nur die Stille, die Lautlosigkeit, und die tönt wahrhaftig nicht laut.“
Walsers Leben endete mit seinem Tod im Schnee, den er in gespenstischer Ahnung fast 50 Jahre zuvor im Roman „Geschwister Tanner“ fantasiert hatte. Der Autor hinterlässt ein Werk, das er unter erbärmlichen wirtschaftlichen Bedingungen geschaffen hat und das weit über seinen Rang am Rande der Gesellschaft hinausweist. Es bleibt ein verschmitztes Rätsel, dass dieser Dichter, dem das Schreiben unabweisbar ein Lebensmittel war, so genügsam sich in sein Schicksal ergeben hat: „Lebe wohl. Wenn ich Blumen hätte, ich schüttete sie über dich aus. Für einen Dichter hat man nie Blumen genug.“ Wer weiß, vielleicht war es Robert Walser sogar recht, unerkannt und dabei sehend durch die Welt zu gehen. Einmal saß er gar inkognito bei einer Lesung aus seinen Büchern im Publikum, lebhaft applaudierend.