Weihnacht

Ende Dezember feiern die Christen mit „Weihnachten“ ein schier unglaubliches, wunderbares Fest: die Geburt ihres Gottes als Mensch. Jesus Christus der Erlöser hält Einzug in die Welt als hilfloses Baby in einer schäbigen Krippe im Stall, weil die umliegenden Herbergen für die werdende Mutter resp. Jungfrau Maria keinen Platz bereithalten. Vermutlich wurde dieses Fest von der frühen Ostkirche erstmals gegen Ende des dritten Jahrhunderts am 6. Januar begangen, vom vierten Jahrhundert an ist in Rom das Gedenken der Geburt Christi am 25. Dezember bezeugt.

Dieses christliche Fest überlagert den heidnischen römischen Kult der Sol Invictus, der unbesiegten Sonne (der Gerechtigkeit); es ist kein Zufall, dass das populäre Fest gerade in die kürzesten Tage des Jahres an den Winteranfang fällt, kommt Christus doch zu den Menschen, wenn die Nacht am tiefsten ist. Im Wort der „Weihnacht“, im Deutschen gebräuchlich seit dem 12. Jahrhundert, steckt die Weihe resp. das Weihen, was in Abgrenzung zur profanen Welt auf Dinge, Gebäude, Handlungen und nicht zuletzt Personen verweist, die Träger des Heiligen sind und darüber religiöse Verehrung erfahren.

Der Geburt Jesu Christi geht die Verkündigung an Marien voraus (Lk 1,26-38), als Erzeuger des Kindes wird vom Engel der Heilige Geist genannt; die fromme Mutter Gottes stellt sich vollends in den Dienst der Vorsehung, ihr irdischer Bräutigam Josef akzeptiert die gesetzliche Vaterschaft (Mt 1,18-25). Der Welt wird die Geburt des Erlösers wie folgt mitgeteilt: „In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Felde und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ (Lk 2,8-12)

Dieser Einbruch des Göttlichen in die menschliche Welt ist in der Geschichte der Religionen ohne Beispiel: Ein Gott, der sich der Zeit aussetzt und leiblich Mensch wird, mit allen Schwächen und Grenzen, und in der Folge nicht primär richtend und strafend auftritt, sondern ein Vorbild an Liebe und Vergebung sein will, übersteigt den Verstand kolossal. Jesus bezieht die Menschen bereits zu deren Lebzeiten in sein Himmelreich ein und verlangt von ihnen lediglich den Glauben an seine Allmacht; die Zeichen und Wunder, die er tut, um sie zu überzeugen, sind ihrem Kleinmut geschuldet. All das ist dem Kind in der Krippe verheißen, das das Erbe der Schrift antritt und sich auf Erden als göttlich offenbart. Dieses Paradox muss man glauben, um es zu verstehen.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die „Weihnacht“ aller exzessiven kommerziellen Überformung zum Trotz ihren Zauber behalten. Die Kirchen sind stets gut gefüllt, eifrige Gemeindemitglieder feiern mit Jahresendchristen Oratorium wie Messe und singen lauthals die Klassiker der Liturgie von Adeste Fideles bis Tochter Zion in jubelndem Dur. Die Sehnsucht nach Liebe, Frieden, Licht und Versöhnung rührt das Herz selbst der kalten Zyniker, das inszenierte Bild der Heiligen Familie steht ganz hiesig für Geborgenheit, Anerkennung, Trost und Gemeinschaft. Ohne diese selige Transzendenz des ewigen Wettbewerbs und Profitstrebens kommt die moderne Gesellschaft nicht aus – die Kehrseite des Geheimnisses der „Weihnacht“ jedoch ist das drastische Erleben der Einsamkeit jener, die am Rande und im Schatten stehen.