Weißensee

Es bleibt ein blühendes Rätsel, warum der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee von den Schergen des Dritten Reiches nicht planiert wurde. Es ist weiter ein Segen, dass das Areal in der DDR landschaftsgärtnerisch vernachlässigt wurde; die jüdische Gemeinde in Ostberlin war nach dem Holocaust viel zu klein, als dass sie das weitläufige Gelände hätte pflegen können, während der Staat sich dafür nicht weiter interessierte. So wuchs im Stillen ein innerstädtisches Biotop heran, das seinesgleichen sucht, ein Märchenwald, der von Zauberhand nicht lieblicher hätte angelegt werden können.

Der jüdische Friedhof Weißensee ist der größte seiner Art in Europa, gestaltet nach Plänen des Architekten Hugo Licht. Im 19. Jahrhundert war die jüdische Gemeinde in Berlin auf rund 65.000 Mitglieder angewachsen, sodass ihre 1827 geweihte Begräbnisstätte an der Schönhauser Allee an ihre Grenzen stieß. Ein jüdischer Friedhof, in der Tradition auch Bet ha-olam (Ort der Ewigkeit) genannt, ist auf Dauer angelegt, ein Ablaufen der Liegefrist und das Neubelegen vorhandener Grabstellen sind nicht vorgesehen. Das bewaldete Gelände in Weißensee, zum Zeitpunkt seines Erwerbs noch außerhalb der Berliner Stadtgrenzen gelegen, umfasst rund 40 Hektar, seit seiner Eröffnung im Jahr 1880 wurden hier 115.000 Menschen jüdischen Glaubens beerdigt. Seit 1977 sind die Gebäude und die Anlage eingetragenes Bau- und Gartendenkmal; dessen ungeachtet werden heute wieder Verstorbene bestattet.

Beim Spaziergang über das Feld, der zu einer Kontemplation in Bewegung gerät, geht die Orientierung schnell verloren; das liegt neben der schieren Größe der Fläche an der üppig wuchernden Flora und den verwitterten Wegweisern. Über den Gräbern liegt ein modriger Teppich aus Efeu, Moos und Blättern, aus ihnen heraus wachsen vielerorts Rhododendren und Farne; granitene Platten sind von der stummen Wucht der Triebe zum Licht zerborsten, etliche Gräber sind peu à peu in die nährende Erde eingesunken. In dieser friedlichen Melancholie fühlen sich nicht nur die Gemüter der Lebenden und (mutmaßlich) die Seelen der Toten wohl, sondern auch Mäuse, Wiesel und Eichhörnchen sowie Spechte, Amseln und Spatzen.

Mit seinen Wegen, die mal breit wie eine Allee und dann wieder schmal wie eine Gasse sind, und den strukturierenden Plätzen wirkt der Bezirk wie eine Stadt in der Stadt. Manch prächtige Grabtempel bezeugen die Macht ihrer Besitzer über den Tod hinaus, viele assimilierte Juden haben sich an der Lust zur Repräsentation des wilhelminischen Deutschlands orientiert. Andere Grabstellen reihen sich dicht an dicht, der jüdischen Tradition der Gleichheit der Menschen vor dem Tode folgend, der sie zu „gemeiner Würmerkost“ (William Shakespeare, Sonett LXXIV) macht; ihre Anonymität wird durch die siegreiche Vegetation noch unterstrichen.

Eiserne Geländer sind von Rost zerfressen, kupferne Dächer haben mit den Jahren einen schimmeligen Grünton angenommen; Regen, Frost und Schnee haben die Goldfüllungen eingelegter Buchstaben zerfließen lassen. Im stummen Streit zwischen Gewächs und Artefakt treten Gras, Strauch und Stamm als Sieger hervor. Die Stelen und Skulpturen aus Stein zerfallen dereinst ebenso zu Staub wie Blumen, Stauden, Fleisch und Knochen. Der (christliche) Begriff des Gottesackers ist durchaus passend, taugen die Gräber doch als Humus für jüdisches Leben. Die jüngeren Grabsteine zeigen neben lateinischen auch hebräische und kyrillische Lettern, obenauf liegen kleine Kiesel als Geste des Gedenkens.

Dass dieses Zeugnis jüdischer Präsenz das Dritte Reich überlebt hat, grenzt an ein Wunder: „Um 1939/40 wird der Friedhof als gärtnerische Ausbildungsstätte für ausreisewillige jüdische Jugendliche genutzt, während des Krieges dient er einigen untergetauchten Juden als Unterschlupf“, schreibt die Garten- und Landschaftsarchitektin Katrin Lesser. „Den Zweiten Weltkrieg übersteht der Jüdische Friedhof in Weißensee fast unbeschadet. Die neue Trauerhalle und die Gewächshäuser werden zwar zerstört und 68 Bombeneinschläge beschädigen etwa 4.000 Grabstellen, von den Verwüstungen durch die Nazis bleibt der Friedhof jedoch weitgehend verschont. 1941 legt die Friedhofsverwaltung ein Urnensonderfeld mit den Urnen von 283 ermordeten ehemaligen KZ-Häftlingen an. Am 11. Mai 1945 findet in einem Raum des Friedhofsgebäudes der erste öffentliche jüdische Gottesdienst nach der Kapitulation statt.“

Weißensee ist nicht nur ein begehbares Stillleben, es ist ein lebendiges Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Am Haupteingang vor der Trauerhalle mit ihren hegenden Arkaden aus gelbem Backstein steht ein Rondell für die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung, gerade jener, die ihr „Grab in den Wolken“ (Paul Celan in seiner Todesfuge) fanden. In einem Gräberfeld an der Nordecke befindet sich die Beisetzungsstätte für circa 90 Thorarollen, die in der Reichskristallnacht 1938 geschändet wurden. Im südlichen Teil des Friedhofes schließlich liegt das 1927 geweihte Ehrenfeld für die im Ersten Weltkrieg gefallenen 12.000 deutschen Juden. Und ein ums andere Mal stößt die Spazierende auf Grabsteine mit der den Atem nehmenden Inschrift „Ermordet in Auschwitz 1943“.

Doch ist der Friedhof mehr als ein Freilichtmuseum – er dient mit seinem 900 Bände umfassenden Archiv als Recherchequelle für die Ahnenforschung und ist so gegenwärtig, wie es eine Schädelstätte nur sein kann. Die Mausoleen der Verleger Samuel Fischer (1859–1934) und Rudolf Mosse (1843–1920), der Frauenrechtlerin Lina Morgenstern (1830–1909) und des Kaufhausgründers Hermann Tietz (1837–1907) belegen, wie bedeutsam und alltäglich jüdisches Leben in Deutschland einmal war. Einschlägige Namen wie Cohn, Goldstein, Levi und Spiegel finden sich hier an jeder dritten Ecke, draußen nur noch antiquarisch. 1295 erstmals urkundlich erwähnt, zählt die hiesige jüdische Gemeinde aktuell rund 10.000 Mitglieder.

In den 1920er Jahren waren neben 67 Beamten und Angestellten im Bestattungswesen weitere 200 Menschen in der Gärtnerei beschäftigt; heute leisten zwei Dutzend MAE-Kräfte das Nötigste, ein privater Förderverein akquiriert Mittel für den Erhalt der Substanz. Es tut der Würde des Ortes keinen Abbruch, dass sich die Natur gegenüber der Kultur durchgesetzt hat, vielmehr unterstreicht diese Dialektik den Charme des Feldes als Zwischenreich. Wie auf jedem Friedhof sind es die Heutigen, die mit dem steinernen Schweigen der Toten leben müssen. Ihnen leuchtet inmitten der zersprungenen Bauten ein, dass es ohne Erinnerung keine Identität geben kann und ohne Tradition keine Zukunft. Doch auch das gehört zur jüdischen Gegenwart: Im Eingangsbereich weisen Schilder auf Überwachungskameras hin, die wegen fortwährenden Vandalismus angebracht werden mussten.