Weiter

Nach ihrer lustvollen Begegnung in der letzten Woche stellte sich für Kerstin und Severin die Frage, wie es nun weiter gehen solle. Beide wollten einander wiedersehen, allerdings nahm Severin Abstand von der Idee, sich erneut in der Wohnung seiner Freundin zu treffen, diese sollte von Intimitäten mit anderen Frauen freigehalten werden. Kerstin hingegen wollte sich mit Severin zunächst auf neutralem Boden treffen, um ihn über ihre Transidentität ins Bild zu setzen. So verabredeten sie sich in einem zentral gelegenen Café, das seine besten Tage in den 1980er Jahren gesehen hatte.

Vor diesem Treffen war Kerstin nach aufgeregter als vor ihrer ersten Tantra-Session. Severin hatte sie nicht nur begehrt, sondern wollte sie für unverbindlichen Sex wiedersehen. Dass sie für seine Erektion verantwortlich war, nahm sie als Kompliment. Kurz nach dem gemeinsamen Abend schickte er ihr via Telegram eine kleine Ballade, in der er einen gemeinsamen Weg zum Höhepunkt vorwegnahm, sie dabei als voller Hingabe und Passivität beschreibend. Allein das Lesen dieser Zeilen machte sie so weiblich, wie sie es sich lange nicht vorstellen konnte. Sie schrieb ihrer vertrauten Freundin Regina, was geschehen war, was diese zu überschwänglichen Hymnen des Glückwunsches animierte. Möge es doch einfach so weitergehen, war Kerstins letzter Gedanke vor dem Einschlafen.

Sie begrüßten sich mit einer Umarmung und einem zärtlichen Kuss und fanden im gut besuchten Café einen Platz auf der Empore, nah an den Toiletten, aber ruhig und gut geeignet zum Reden. Gottlob fing Severin an, über einen verstorbenen gemeinsamen Bekannten zu sprechen, den Kerstin noch vor ihrem Coming-out kannte. Dankbar nahm sie den Ball auf und erzählte von jenen Tagen kurz vor Mauerfall und Wende, die auch für sie persönlich eine existentielle Weichenstellung bedeuteten, weg von der männlichen Gestalt, hin zu Vornamensänderung, Hormonbehandlung und schließlich Operation. Severin stutzte und fragte direkt, Wie, Du warst mal ein Kerl? Und Kerstin antwortete, Wenn Du es so ausdrücken willst.

Nach diesem Geständnis ging es ihr besser, die Vorstellung einer Täuschung war von ihr genommen. Nun war es an Severin, dieses Wissen, das möglicherweise eine Ahnung bestätigte, anzunehmen und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Er war interessiert an den technischen Fragen und wollte wissen, ob ein Bartwuchs durch die Hormonbehandlung verschwunden sei (zum Teil), ob sie plastisch-chirurgisch etwas im Gesicht habe machen lassen (nein) oder ob es sie es nicht vermisse, im Stehen pinkeln zu können (zu keiner Zeit). Körpersprachlich rückte er kein Jota von ihr ab, er streichelte sie und hielt ihre Hand, ließ sich von ihr die Beine tätscheln und küsste sie unvermindert auf den Mund. Er verstand nun, warum sie mit Männern offenkundig wenig Erfahrung hatte, was ihn aber nur in der Bereitschaft bestärkte, ihr in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht zu geben.

Für ihn schien ihre Auskunft zum Werden ihrer Weiblichkeit gegen biologische Vorgaben nichts an seinem Begehren zu ändern. Er sprach unterdessen von seiner Beziehung zu seiner Freundin, die mit einer parallelen Fickbeziehung einverstanden sei. Und es schien nicht bei einer Ergänzung zu bleiben, er erwähnte die Namen anderer Frauen, mit denen er sich zum Vergnügen traf, Kerstin fühlte sich eingereiht in dieses Defilee der Gespielinnen der Freude. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, die Augen halb verschleiert durch die offenen langen Haare, die ihm sehr gefielen. Was tat es ihr gut, dass er ihren Körper mochte, ihre weiche Haut, ihre Liebesgriffe an der Hüfte. Ihre panische Vorstellung, er werde sie verachten und verstoßen, erwies sich als haltlos; er schien zwar ihre Vergangenheit spannend zu finden, sah ihre Gegenwart aber um Längen reizvoller.

Ihren alten Namen wollte er nicht unbedingt wissen, meinte aber, er würde gern einmal ein Bild aus Teenietagen sehen wollen. Sie antwortete, dass sie ihm gegebenenfalls ein solches zeigen werde. Sie war begeistert darüber, dass er sich entgegen ihrer Befürchtungen in seiner Männlichkeit nicht verunsichert fühlte durch den Umstand, dass sie dereinst unter anderen Vorzeichen ihr Leben begonnen hatte. Er sprach davon, dass schwere Genitalverletzungen hauptursächlich für Suizide unter US-Soldaten seien; sie registrierte zufrieden, wie weit weg sie von einer derartigen Reaktion sei. So wie sie sich in der Pubertät von Testosteron vergiftet gefühlt hatte, bevor das Antidot Östrogen zur Schadensbegrenzung eingesetzt wurde, so fremd und unpassend kam ihr rückblickend ihr Schwanz vor, dessen Transformation in eine Neovagina sie in keiner Weise bedauerte. Unterm Strich änderte ihre Offenbarung nichts an seinen Wünschen ihr gegenüber, höchstens, dass er seine Verantwortung gegenüber ihr als Jungfrau mannhaft annahm.

In den Tagen nach diesem Gespräch brach Kerstin zum Osterurlaub in die westfälische Heimat auf. Sie nahm eine überempfindliche juckende Pflaume mit auf den Weg, die das Anfassen und Waschen erschwerte. Hatte sie sich beim intimen Kontakt mit Severin eine Infektion eingefangen? Das Risiko für Frauen dafür war beim ungeschützten Geschlechtsverkehr deutlich höher als für Männer, zum einen wegen der kürzeren Harnröhre, zum anderen wegen der anatomischen Nachbarschaft zum Anus. Als sie Severin von einer diagnostizierten Blasenentzündung schrieb, antwortete er neckisch, sie sei ja wirklich erfolgreich auf das Leben einer Frau eingestellt worden, sogar mit den Nachteilen. Ob sie denn auch ihre Tage bekomme? Sie senkte schamhaft die Augen und schrieb ihm ermahnend, dass auch er ein Interesse daran habe, dass die fiese Entzündung bald wieder abklinge, Sex sei unter diesen Umständen kaum möglich.

Das gab er gerne zu. Und als er ihr einen Artikel über das gynäkologische Krankheitsbild der brennenden Vulva zusandte, traten ihr Tränen der Rührung in die Augen. Kerstin war für ihn einfach eine Frau, punktum. Ihre Befürchtungen vor einer Zurückweisung waren anscheinend übertrieben, sie war Teil des weiblichen Kollektives und wurde so behandelt. Vermutlich war sie schöner, als sie es sich in ihrem selbstkritischen Blick auf Gesicht und Körper zugestand. Gerne nahm sie Severins Anregung auf, sich mit Fingerübungen in der Spalte auf seinen nächsten Besuch vorzubereiten. Vielleicht war es sinnvoll, mit einem kleinen Delphin für eine Dehnung und Lockerung zu sorgen, um ihm den Platz zu bieten, den er beanspruchte. Und unter Umständen war es nach 32 Jahren Zeit für eine korrigierende Operation der Scham: Zum Vertiefen und Weiten der Höhle, zum Glätten und Straffen der Haut, zum Entfernen vernarbten Gewebes. Das wäre ein Dienst für sie beide, für sich und ihren Liebhaber in spe.