Wiederaufbau

Wie sähe der Wiederaufbau der europäischen Stadt nach dem Ende des Autos aus? – Andrea Warnekros

Mit der Epochenschwelle 1989/91 endete die Sowjetunion, das perfide Menschheitsexperiment des Kommunismus wurde für gescheitert erklärt. Zu seinen bis heute sichtbaren Hinterlassenschaften gehören die großen Wohnsiedlungen an den Rändern der Städte des Sojus, die sich unheimlich gleichen, ob sie nun in Riga, Minsk, Bukarest, Danzig, Sofia oder Odessa stehen. Um das steinerne Erbe des zentral gesteuerten Bauens läuft bereits eine Diskussion der Denkmalpflege, einzelne Historiker feiern gar die Panelki genannten Plattenbauten. Der deutsche Architekt Philipp Meuser, der mit mehreren Büchern zum Bauen und zur Stadtplanung in den sozialistischen Ländern hervorgetreten ist, hat gemeinsam mit der ukrainischen Architektin Kateryna Malaia Ende 2024 ein Buch veröffentlicht, das Gebäudetypen und Bauserien der Ukraine abbildet. Ein Unterfangen, das während des laufenden Krieges neben der Bestandsaufnahme notwendig den Ausblick provoziert.

Philipp Meuser, Jahrgang 1969, Architekt und Verleger, gründete 2005 den auf Architektur und Stadtplanung spezialisierten Verlag DOM Publishers. Seit 2018 ist er Honorarprofessor an der Universität Kharkiv. Kateryna Malaia, Jahrgang 1988, studierte Architektur in Kiew und bekleidet derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Utah. Ihr Schwerpunkt ist die (post-)sowjetische Architektur. Das Buch umfasst ein ganzes Jahrhundert, das mit der Gründung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 1922 beginnt und mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sein Ende findet. Die erste Phase von 1922 bis 1938 ist dem spezifisch ukrainischen Wohnungsbau in der Frühzeit der UdSSR gewidmet, die zweite Phase von 1938 bis 1958 steht für Stalins Prunkbauten und das Ende der Moderne, die dritte Phase von 1958 bis 1984 schildert das serielle Bauen unter und nach Chruschtschow, die vierte Phase von 1984 bis 2008 erfasst die späte Sowjetunion und die Oligarchen-Jahre unter wackliger Freiheit, die abschließende fünfte Phase von 2008 bis 2022 dokumentiert den sogenannten Turbokapitalismus ausländischer Investoren und die Renaissance des Urbanen. Die – noch kaum zu bemessende – sechste Phase wäre schließlich eine Darstellung der Zerstörungen während des Krieges und des anschließenden Wiederaufbaus.

Auf den ersten Blick kommt das Buch wie ein lieblicher Katalog des öffentlichen Bauens in der Ukraine im Verlauf der Jahrzehnte daher, versetzt mit den typischen Abkürzungen für einzelne Bauserien: I-438, I-302, II-57, APPS-Lux. Verblasste Fotos, detaillierte Pläne, Grund- und Aufrisse sowie Modelle erzählen an ausgewählten Beispielen aus Kiew, Lviv, Odessa, Jalta, Mariupol, Chernihiv, Dnipro und Cherson die Geschichte des Wohnungsbaus in der Ukraine, mehrheitlich als Sowjetrepublik, ergänzend für die Zeit nach der Unabhängigkeit 1991. Die beiden Autoren sind im Sommer 2022 erneut an den Dnepr gereist, ihre seinerzeit gemachten Fotos geraten nolens volens zu Zeugnissen des Krieges. Eine surreale Aufnahme zeigt ein 24 Stockwerke hohes Wohngebäude in Kiew, die Fassade angestrichen in leichtem Orange und blassem Lachs. Etwas oberhalb der Gebäudemitte zeigt sich ein über mehrere Stockwerke gehendes Loch nach einem Bombentreffer, Stahlträger hängen in der Luft, Wände sind herausgerissen, Decken kippen senkrecht, Staub strömt nach allen Seiten, Fensterrahmen sind verschoben. Und einige Meter weiter brennt ein Licht in einer Wohnung, weht eine Gardine im Wind, laufen Klimaanlagen weiter. Ob das Haus einsturzgefährdet oder notdürftig stabilisiert ist, lässt sich aus der Aufnahme nicht ablesen.

Die Entwicklungen des urbanen Planens und Bauens lassen sich im besprochenen Band an verschiedenen Aspekten ausmachen: Anfangs werden die Wände mit Ziegeln gebaut, mit der Ära Chruschtschow kommen die im ganzen Sojus verwendeten Panelki, also in der Fabrik vorgefertigte und auf der Baustelle eingesteckte Wandelemente inklusive Aussparungen für Türen und Fenster, zum Einsatz. Sind in den 1920er und 30er Jahren auch Mehrfamilienhäuser für Arbeiter im Foyer und an den Fassaden klassizistisch geschmückt, tritt wiederum mit Chruschtschow die pure Sachlichkeit ohne Schnörkel in all ihrer lähmenden Monotonie in den Vordergrund. Die in den 1970er Jahren errichteten Wohnhäuser scheinen schlecht zu altern, was sich an abblätterndem Putz, Wasserflecken und aus der Mode gekommenen Musterreliefs ablesen lässt. Anfang des 21. Jahrhunderts erschlossene Wohnblöcke, umgeben und durchsetzt von erstaunlich viel Grün, könnten mit ihrer unterkühlten Ästhetik schlanker Fenster und auskragender Balkone auch in den Häfen von Kopenhagen oder Rotterdam stehen. Ein kein zehn Jahre altes Wohnhaus in Odessa stellt sich in historisierender Pracht mit Loggien, Ziersäulen, Dekoziegeln, Gesimsen und Balkongittern dar – allerdings verrät die erbärmliche Deckenhöhe von höchstens 2,10 m die Enge hinter der effektheischenden Fassade.

Die russische Kriegsführung richtet sich beileibe nicht nur gegen im engen Sinn militärische Ziele, sondern nimmt konkret die Ausdauer und die Kraft der Zivilbevölkerung ins Visier: Russische Artillerie, unterstützt durch wendige Drohnen, nimmt Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren, Fabriken und Wohnhäuser unter Feuer, zusätzlich Straßen, Brücken, Häfen und Flugplätze, nicht zuletzt Einrichtungen kritischer Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Kläranlagen, Getreidespeicher und Tanklager. All das geschieht unter einer unfassbar kalten Verachtung des einzelnen menschlichen Lebens – Schätzungen belaufen sich auf bis zu 1.000 gefallene beziehungsweise schwer verwundete russische Soldaten pro Tag. Die meisten von ihnen werden ihren Familien gegenüber als „vermisst“ gemeldet, um der Armee die versprochenen Witwenrenten zu sparen. Hinzu kommt, dass der ganze Donbass im Wortsinn ein einziges Minenfeld ist, an eine landwirtschaftliche Nutzung dieses Gebietes in den kommenden Jahren nicht zu denken ist.

Seit Beginn des Krieges haben die USA rund USD 114 Mrd. an Unterstützungsleistungen an die Ukraine geliefert, davon knapp USD 66 Mrd. an eigens militärischer Hilfe. Damit sind die USA mit Abstand größter Waffenlieferant der Ukraine, hinzu kommt etwa die wichtige Satellitenaufklärung über das private Starlink-Netzwerk. Deutschland kommt für den bisherigen Kriegsverlauf auf eine Unterstützungssumme für das Militär in Höhe von € 28 Mrd.; die Kosten für die Unterbringung der gut 1,3 Mio. ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind darin ebenso wenig enthalten wie die drastisch gestiegenen Kosten zur hiesigen Energieversorgung als Folge der Beteiligung Deutschlands an den EU-Sanktionen gegen Russland. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben bisher etwa 45.000 gefallene und weitere 390.000 zum Teil schwer verwundete Soldaten zu beklagen, zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung schweigt sich die Administration aus. Anfang Januar 2024 galten etwa 250.000 Wohngebäude in der Ukraine als beschädigt oder gar zerstört.

Die Weltbank schätzt, dass es dereinst etwa USD 524 Mrd. kosten werde, die Schäden des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu beseitigen. Wer diese enormen Gelder des Wiederaufbaus des geschundenen Landes über welchen Zeitraum aufbringen solle, bleibt seitens der zitierten Studie unerwähnt. Die US-Amerikaner unter ihrem altneuen Präsidenten sind die einzigen, die bisher den Wert und den Preis der gewährten und projektierten Hilfen beziffern und den Gedanken einer Refinanzierung ins Gespräch bringen; der ursprüngliche Plan, die in der Ukraine lagernden Seltenen Erden durch US-Konzerne erschließen und abbauen zu lassen und dergestalt die gewaltigen Summen zumindest tendenziell einzuspielen, ist nach dem offen ausgetragenen Streit von Washington zwischen dem ukrainischen und dem US-Präsidenten erst einmal vom Tisch. Darüber hinaus hat die US-Regierung jede weitere Ukraine-Hilfe bis auf weiteres gestoppt. Im schlimmsten Fall schlüge gerade fern ab jeden Friedens eine Stunde Null mitten im Krieg, die eine weitere Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression auf andere Füße würde stellen müssen.

Die Ukraine ist zwar überwiegend ein Agrarland, die Bevölkerung lebt aber zu mehr als zwei Dritteln in städtischen Regionen. Sie ist anders als Deutschland kein Mieterland, die Wohneigentumsquote liegt bei über 85 Prozent. Nach dem Kollaps der Sowjetunion ging der staatlich reglementierte Bestand sukzessive an die Bewohner über. Allerdings wurde es 1991ff. versäumt, den neuen Eigentümern auch einen Teil des Grundstücks zu übertragen, dieses verblieb beim trägen, an Erhalt und Pflege weitgehend desinteressierten Staat. Diese Nachlässigkeit im Umgang mit umbautem Raum zeigt sich auch beim Verkauf von Wohnungen; diese sind in der Regel unverputzt und verfügen über keinerlei technische Ausstattung, sodass es dem neuen Eigentümer obliegt, nicht nur zu tapezieren, sondern sich auch um Strom, Wasser, Heizung und dergleichen zu kümmern. Ein besonders rührendes Foto des besprochenen Bandes zeigt eine Tiefgarage, die mit Matratzen, Konserven, Decken und Wasserflaschen zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert wurde.

Wenn der Wiederaufbau der geschundenen und teilweise zerstörten Städte beginnen kann, wird es in erster Linie darum gehen, rasch Wohnraum für die Bevölkerung zu schaffen. Es braucht zunächst die Bergung der zahllosen Minen und nicht explodierten Bomben, Abraumhalden für den Schutt, Kenntnisse und Geräte zur Identifizierung und Wiederverwertung kostbarer Trümmerteile, einen Anschluss an die städtische Infrastruktur, eine Anschubfinanzierung für den Baubeginn, eine sozial verträgliche Priorisierung bei der Vergabe neu erbauter Wohnungen speziell in den urbanen Zentren. Auch gilt es den unversehrten Bestand auf weitere Tauglichkeit hin zu prüfen und ihn gegebenenfalls mit zu ersetzen. Welche Stilelemente und Materialien die künftige Nachkriegszeit prägen werden und wie lange ihre Halbwertzeit sein wird, lässt sich heute nicht seriös abschätzen. Allerdings steht es zu vermuten, dass sich die Nachkriegsukraine vom kyrillischen Alphabet, das auch vom verhassten russischen Nachbarn benutzt wird, abwenden wird. Schon jetzt, so zeigt es der vorliegende Band, dominieren in den jüngeren Vierteln ausländische Unternehmensmarken das kommunikative Bild der Straßen. Und die schreiben sich selbstredend im lateinischen Alphabet.