Was hat man von einem Buch, wenn keine Bilder drin sind? – Lewis Carroll, Alice im Wunderland
Die Fotografie ist eine junge Kunst. Im ausgehenden 19. Jahrhundert machte sie der Malerei und der Zeichnung den Anspruch auf exakte Abbildung der Welt streitig, Pinsel und Stift übten sich als Reaktion darauf in der Abstraktion. Doch war die Kamera nie das unbestechliche Objektiv, das durch seine schiere Anwesenheit eine Situation beglaubigt. Ob ein Foto täuscht, verzerrt oder karikiert, hängt neben dem Können und der Technik des Fotografen vom Vorwissen der Betrachterin ab. Die fotografischen Arbeiten Frank Kunerts kommen auf den ersten Blick als Realismus à la Magritte daher, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Kompositionen des Absurden und des Wunders. Dabei unterläuft der Künstler in voller Absicht die Sehgewohnheiten seines Publikums.
Frank Kunert wurde 1963 in Frankfurt/Main geboren, nach dem Abitur machte er eine Lehre zum Fotografen. Nach Jahren in der Werbefotografie betreibt er seit 1992 als freiberuflicher Künstler ein eigenes Studio. Er entwirft seine Miniaturwelten im filigranen Modellbau, die dann mit einer analogen Großformatkamera aufgenommen werden. Frank Kunert wurde für seine Arbeiten, die in verschiedenen deutschen Periodika publiziert wurden, mehrfach ausgezeichnet, er hat viele Einzelausstellungen gehabt und hat an etlichen Gruppenausstellungen teilgenommen. Bücher mit seinen Bildern sind über den Buchhandel zu beziehen, in gut sortierten Museumsläden sind Postkarten mit Drucken seiner Fotos zu finden. Frank Kunert lebt mit seiner Frau in Boppard am Rhein.
Die Etymologie des Wunders ist unklar, im Deutschen ist wuntarlih im 9. Jahrhundert nachweisbar. Diskutiert wird eine Ableitung zu winden, bezüglich des Lateinischen perplexus = verworren, unergründlich und plectere = flechten. Im christlichen Kontext ist das Wunder ein irrationales Ereignis, das als Zeichen einen Verweischarakter hat auf göttliche Macht, Heilszuwendung und Liebe. Das Wunderland, so der Titel eines Buches von Frank Kunert, öffnet sich im Witz, der dann entsteht, wenn zwei Dinge aufeinandertreffen, die nicht zusammenpassen: Etwa das Klavier, das anstelle der Tastatur über ein Lenkrad und einen Tacho verfügt; das Bett auf schaukelnden Kufen, das überbaut ist von einem Aktenschrank und einer Schreibtischplatte; der Meiler des Atomkraftwerks, an dessen Betonhülle ein Balkon samt Gitter und Blumenkasten wie ein lästiges Insekt klebt; der Treppenabsatz im Souterrain, der als Kochgelegenheit und Esstisch verwendet wird.
Frank Kunert kombiniert in seinen Arbeiten die künstlerischen Techniken des Bühnenbildners und des Fotografen. Beiden geht die unsichtbare Wirkung der Fantasie voraus – im Kopf entstehen die Entwürfe unmöglicher Welten, die pseudodokumentarisch abgebildet werden und den Rang eines Zeugnisses bekommen. Dabei weiß der professionelle Fotograf, dass ein Foto keine Realität an sich zeigt, sondern den Blick der Betrachterin auf eben diese lenkt, durch die Wahl des Ausschnittes, der Perspektive, der Beleuchtung, des Kontextes, der Brennweite, der Filter und der Legende, von der nachträglichen Bearbeitung des Negativs respektive der Datei in der Dunkelkammer respektive am Rechner zu schweigen. Die Fotografie ist so schöpferisch wie manipulativ, gleichwohl kommt ihr im Alltagsverständnis der medial vermittelten Welt ein Rang der Wahrhaftigkeit zu. Wie tönern diese ist, zeigen Frank Kunerts Werke auf tragisch-komische Weise.
Seine Arbeiten entstehen in einem Prozess über Wochen, manchmal Monate. Erste Ideen werden auf Papier skizziert, dann beginnt er mit dem Bau seines Modells in der Dimension des Kaufladens und der Puppenstube. Die Interieurs und Außenansichten werden mit Leichtschaumplatten und Sperrholz aufgebaut, textile Fetzen werden aufgeleimt, Watte und Knetmasse formen Dampf und Zylinder, mit feinem Pinsel werden Lacke und Farben aufgetragen, Krepp, Folien, Samt und Schleifen aus dem Bedarf für Dekorationen werden obenauf gesetzt, aus Tortenspitze wird eine Gardine. Wenn das Bühnenbild im Groben steht, werden Lichtquellen und Schattenschirme arrangiert, erste Probeaufnahmen mit der Digitalkamera entstehen. Am Ende folgt der finale Schuss mit der analogen Kamera, der die Miniaturwelten für das menschliche Auge visuell wieder vergrößert auf den Maßstab 1:1. Das Ergebnis ist der Blick auf eine Unmöglichkeit, auf ein Wunder, das die Gesetze der Optik und der Logik einfach überschreitet.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in Frank Kunerts Œuvre ist die baulich widersinnige Architektur. Das Bild „Unter der Brücke“ von 2016 zeigt eine angeschnittene Fahrbahn, auf deren Mittelstreifen ein Betonpfeiler steht, der eine quer zur Fahrbahn verlaufende Brücke stützt, die wie ein Dach über der Szene liegt. Dieses auf deutschen Autobahnen gängige Element wird durch die Beschaffenheit des Pfeilers ins Absurde gezogen: Eine Tür, eine Hausnummer und ein Klingelknopf suggerieren den Eingang in ein Haus, rückwärtig im ersten Stock ist die Brüstung eines Balkons zu erkennen, der über dem Asphalt hängt. Auch wenn die geringe Tiefe der Betonstütze einen bewohnbaren Raum ausschließt, wirkt der Eingang so realistisch, dass es schmerzt: Wohnen auf der Autobahn, eine Paradoxie, der man nur mit Lachen entkommt.
Ähnlich gallig ist die Arbeit „Ein Platz an der Sonne“ von 2014. Im rechten Teil des Bildes sieht man den Beginn einer Reihe Häuser, zweistöckig, bescheidener Eingang, beige verputzt mit deutlichen Gebrauchsspuren. Im linken Teil glänzt ein weiß gehaltenes schmuckes Haus mit waagerechten Sehschlitzen, Eingangstür aus gebürstetem Stahl und Buchsbaumtopf. Die erste Etage läuft über einen Wohnbereich mit bodentiefen Fenstern in eine Terrasse aus – die sich wie ein Sargdeckel über einen Balkon der Nachbarreihe legt und ihn damit unbetretbar macht. Der Sonnenschirm auf der Terrasse macht den Aufenthalt im Freien mutmaßlich bequem, während der Balkon darunter im Schatten zu unnützem Hohlraum verkommt.
Von gemeinem Humor ist schließlich das Interieur „WC im OG“ von 2010. In mehreren Metern Höhe klebt in einer sonst leeren Halle ein Toilettenverschlag mit drei Türen samt Signet, Damen, Herren, Rollstuhl. Zu diesen Toiletten führen drei parallele Steigleitern, die nur per Hand und Fuß erklommen werden können. Die Unbenutzbarkeit dieses WC speziell für Rollstuhlfahrer wird noch durch den Gehstock auf die Spitze getrieben, der neben der Eingangstür an einem Haltegriff baumelt. Ganz rechts am Rand der Halle öffnet sich ein Abgang, der, wenn man das Geländer richtig interpretiert, zu einer Treppe nach unten führt. Vermutlich ist die Zelle für die Rollstuhlfahrer vorschriftsmäßig groß genug nach der Norm, allein die schwindelnde Höhe macht sie unzugänglich.
Bleibt die Arbeit „Geschlossene Gesellschaft“ von 2011. Die Betrachterin blickt durch einen verglasten Rundbogen einer Außenwand in ein hell erleuchtetes Zimmer mit Textiltapete, der Tisch ist festlich gedeckt, die Servietten liegen noch zusammengerollt auf den Tellern. Offenbar ist alles für ein abendliches Menu vorbereitet, die Speisen können jeden Augenblick aufgetragen werden. Am Kopfende der Tafel steht, mit dem Rücken zur Betrachterin, ein Stuhl – im Freien, der Rahmen leicht schneebedeckt. Wer auch immer hier Platz nähme, wäre kein Teil der Gesellschaft, er könnte den Anderen lediglich beim Essen und Sprechen zusehen. Der pulvrige dichte Schnee, der Tannen und Büsche bedeckt, weist keinerlei Fußspuren zum Stuhl auf.
Menschen sucht man in den grotesken Konstruktionen vergeblich, ganz so, als sei es dem Schöpfer dieser Wunderwelten klar, dass Menschen sich hier nicht aufhalten oder bewegen können oder auch nur wollen. Auf Wettbewerbsentwürfen von Architekten sind hier und da Menschen zu sehen, als Staffagefiguren und als belebende Ingredienzen der gebauten Umwelt. Diese Pläne, die schon seit langem am Monitor generiert werden, sind ein Versprechen auf ein menschliches Leben in der Wohnanlage, dem Einkaufszentrum, dem Bürogebäude. In den leblosen Räumen Frank Kunerts würden Menschen nur stören mit ihren Gedanken, ihren Lastern, ihren Körpern und ihrer Fehleranfälligkeit. Seine negative Fantasie lagert den Menschen als Zweck des Bauens komplett aus, seine Interieurs und Fassaden halten den Atem an, wie vor einer Katastrophe.
Könnte es sein, dass – diese Frage läuft beim Betrachten der Illusionen Frank Kunerts immer mit. Das Publikum spürt intuitiv, dass Räume dieser Art unmöglich sind. Dass sie ihm in ihrer Detailverliebtheit mit großem Ernst und Hintersinn präsentiert werden, kann nur als Wunder aufgefasst werden. Das Irreale bricht ein in die Welt der Regeln, der Vorschriften und der Grenzen, weil es ihr Schöpfer so will. Hieronymus Bosch konnte seine höllischen Kreaturen bar jeder Anatomie auf Eichenholz bannen, weil seine Fantasie ihm ihr Aussehen verriet; in der Erzählung „Alice im Wunderland“ kann ein Hutmacher den Tee durch seinen Hemdkragen den Ärmel hinunter in die Tasse gießen, weil es ihm beliebt. Der Modellbauer Frank Kunert erschafft die verkehrten Welten des Wunders und des Lifestyle, der Fotograf Frank Kunert lässt das Publikum daran glauben. Besser als mit Photoshop und Deep Fakes.