WW II

Vae victis! – Keltischer Heerführer an die besiegten Römer im Jahr 387 v. Chr.

Der markante Kubus ist problemlos vom alten Stadtzentrum Danzigs aus zu sehen. Wie eine massige Skulptur steht der rund 40 Meter hohe, teils spiegelnd verglaste, teils in leuchtendem Rot verkleidete Bau in einem Winkel von 56° auf einem ehemaligen Busbahnhof inmitten des Hafengeländes. In der näheren Umgebung stehen neu erbaute Wohnriegel, deren Fassaden frischen Wohlstand verkünden, ansonsten bleibt der Kubus ein Solitär. Er wurde 2017 als Museum des II. Weltkriegs eröffnet, das nach den Worten seines Gründungsdirektors kein Militärmuseum sein soll, sondern die Leiden und den Alltag der Zivilbevölkerung während des II. Weltkriegs in den Vordergrund rücken will. Die Ausstellungsfläche umfasst rund 5.000 m² und liegt in einer Tiefe von 14 Metern.

Um dieses Museum, das das erste seiner Art in Polen ist, hat es eine erbitterte Kontroverse gegeben. Den Anstoß zu seiner Errichtung gab 2008 die seinerzeitige Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk, einem gebürtigen Danziger und studierten Historiker. Das Architekturbüro Kwadrat aus dem benachbarten Gdynia gewann den Wettbewerb, mit dem Bau wurde 2012 begonnen, parallel dazu wurden rund 36.000 Artefakte als mögliche Exponate des zu eröffnenden Museums gesammelt. Die seit 2015 in Polen regierende PiS-Partei suspendierte die erste Museumsleitung und griff ins Ausstellungskonzept ein, der Katalog zur Dauerausstellung war für mehrere Jahre nicht erhältlich. Diese Übergriffigkeit der Regierung war möglich, weil das Museum administrativ und finanziell dem Kultusministerium untersteht. Nachdem Donald Tusk Ende 2023 erneut polnischer Premier wurde, wurden die Mitglieder der ersten Museumsleitung rehabilitiert und wieder ins Amt gesetzt.

Anhand der Konzeption der Ausstellung wird einmal mehr deutlich, dass die Geschichtswissenschaft keine objektive Wissenschaft ist, vielmehr den jeweiligen Standpunkt der Forscher – und damit verbunden ihren blinden Fleck – nicht verleugnen kann. Es beginnt bei der Auswahl der jeweiligen Quellen, setzt sich fort bei deren Gewichtung, Analyse sowie Interpretation und findet das vorläufige Ende beim wertenden Rahmen der präsentierten Erzählung. Notwendig fallen dabei Dinge, Personen, Aspekte, Zusammenhänge unter den Tisch, die es bräuchte, um das ganze Bild zu zeichnen, während andere Positionen und Auslegungen zu kurz kommen. Um einen wünschenswerten Abstand in der Totalen zu erreichen, müsste der Historiker wohl diese Erde verlassen und einen Beobachtungsposten auf dem Mond oder zumindest auf einem Satelliten beziehen, dann bekäme er das Notwendige und Unverzichtbare lange genug in den Blick. Und neben einem Teleskop bräuchte er zudem noch ein Mikroskop.

Unvollständig ist bereits die Aufbereitung der Vorgeschichte des II. Weltkriegs, die in den Versailler Verträgen zum Ende des I. Weltkriegs wurzelt. Gleich vier Imperien – Habsburg, Hohenzollern, Osman, Romanov – gehen in den Gräben von Sedan und Verdun unter, die teilweise an deren Stelle tretenden parlamentarischen Demokratien stehen auf wackligem Fundament. Es sind die sich etablierenden autoritären Regime in Italien, der Sowjetunion und Deutschland in den 1920er und frühen 30er Jahren, die die Nachkriegsordnung Europas unter Druck setzen. Die Ausstellung zeigt anhand propagandistischer Plakate den Personenkult um den Sowjetdiktator Josef Stalin, der sein Land mit roher Gewalt vom rückständigen Agrarstaat in Richtung Industriemacht peitscht. Die berühmten Filme Leni Riefenstahls illustrieren die Funktion Adolf Hitlers als Führer Deutschlands, der vom ersten Tag an in der Reichskanzlei auf den kommenden Krieg hin arbeitet; die einschlägigen Szenen aus „Olympia“ und „Triumph des Willens“ werden dabei erwartungsgemäß mit Richard Wagners „Walkürenritt“ unterlegt.

Das Oberthema der Ausstellung des Museums des II. Weltkriegs ist die Rolle Polens als erstem Opfer des Krieges, genauer der Invasion der Wehrmacht und der Roten Armee im September 1939, und zugleich als hartnäckigem Widerständler, der sich nach der bedingungslosen Kapitulation des III. Reiches im Mai 1945 auf der Seite der Sieger wiederzufinden meint. Diese heldische wie patriotische Lesart des wohl schlimmsten Krieges in der Geschichte der Menschheit ist nicht frei von Chuzpe, zumal die Ausstellung die eigentlichen Gründe für die Niederlage des III. Reiches nach sechs Jahren des Mordens nicht benennt: Da wäre zum einen die heillose Überdehnung militärischer, finanzieller, logistischer, industrieller und mentaler Ressourcen, die mit dem wahnsinnigen Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 einherging; zum anderen das noch im Sommer 1941 durch den Kongress auf den Weg gebrachte Lend-Lease-Programm, mit dem die USA noch vor dem offiziellen Kriegseintritt im Dezember 1941 zur entscheidenden Rüstungsschmiede der Alliierten wurden und diese großzügig mit Waffen aller Art und lebenswichtigen Industriegütern ausstatteten.

Als Sündenfall erscheint der Hitler/Stalin-Pakt vom August 1939, mit dem sich die beiden Diktaturen in Moskau auf eine friedliche Lösung möglicher Konflikte verständigen – und in einem geheimen Zusatzprotokoll ihre Interessenssphären in Osteuropa markieren. Das Baltikum, zu dem auch Finnland gezählt wird, geht ebenso wie Bessarabien und das östliche Polen an die Sowjetunion, der größere westliche Teil Polens wird dem III. Reich zugeschlagen. Im September 1939 dauert es gerade drei Wochen, bis das 1918 wieder souverän gewordene Polen zum vierten Mal geteilt wird und erneut von der politischen Landkarte verschwindet. Die Ausstellung zweifelt die Schuld des III. Reiches am II. Weltkrieg nicht an, nobilitiert die Sowjetunion aber zum Ko-Aggressor; nachvollziehbar angesichts der Massaker der Roten Armee auf polnischem Boden und des Behaltens der estnischen, lettischen, litauischen und polnischen Gebiete als Beute des Hitler/Stalin-Paktes sowie der sowjetischen Fremdbestimmung bis 1989.

Insgesamt spricht die Ausstellung eher das Gefühl und weniger den Verstand an, sie unternimmt nichts, um das Grauen des Krieges auf Abstand zu halten. Unter den Exponaten befinden sich Flaggen und Uniformen, Maschinengewehre und Panzer, Briefe und Fotos anonymer Soldaten, Filmschnipsel aus Wochenschauen und Portraits Verhafteter, Feuerzeuge und Schmuck, Münzen und Geschirr, Lebensmittelmarken und eine Enigma-Verschlüsselungsmaschine. Rührend ein Paar Absatzschuhe, das eine junge Braut während ihrer Hochzeit inmitten des Krieges trug; ebenso eine aus Textilresten genähte Gesichtsmaske, um sich vor dem schneidenden Wind in der sibirischen Verbannung zu schützen. Die erfolgten Deportationen polnischer Bürger durch die Sowjets hinter den Ural werden als Teil einer Strategie während der Kriegshandlungen inszeniert; dabei wurden bereits seit den frühen 1920er Jahren und bis spät in die 1940er Jahre alle möglichen Nationalitäten, die in die Fänge des kommunistischen Regimes Moskaus gerieten, in die Eiswüsten des Hohen Nordens verschleppt.

Der Holocaust, die im industriellen Maßstab betriebene Verfolgung, Verhaftung und Vernichtung der europäischen Juden, wird im Danziger Museum nicht ausgespart, bekommt aber den Rang des Beiläufigen – eine solche Rahmung wäre in einem deutschen, amerikanischen oder israelischen Museum vergleichbaren Zuschnitts undenkbar. Dabei war die Behauptung der Überlegenheit der arischen Rasse gegenüber allen anderen bei gleichzeitiger Entmenschlichung der jüdischen Rasse das Kernelement der nationalsozialistischen Ideologie, die einer der Gründe für den II. Weltkrieg werden sollte. Der Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943 wird lobend erwähnt, gerät aber praktisch zur Hinführung auf den Warschauer Aufstand im August 1944. Das Massaker an den 33.000 Juden von Kiew in der Schlucht von Babin Jar im September 1941, noch bevor die Fabriken in den Vernichtungslagern angelaufen waren, wird hingegen mit einem raren Farbfoto der Exekutionen illustriert, was den Grusel nur verstärkt.

Ambivalent auch die Darstellung der letzten Kriegsmonate samt der Weichenstellungen für die Zeit nach der Kapitulation. Die alliierten Flächenbombardements auf Städte wie Dresden oder Hamburg, die keinen militärischen Zielen dienten, sondern primär die Zivilbevölkerung treffen sollten, werden schlicht ignoriert. Dafür werden die zahllosen Vergewaltigungen und Tötungen deutscher Mädchen und Frauen im Sommer 1945 genannt – wohl, weil sie von sowjetischen Soldaten als mutmaßliche Racheakte verübt wurden. Die Westverschiebung Polens Richtung Oder und Neiße wird nüchtern protokolliert; dass rund 14 Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, dem Wartheland und Schlesien zuerst enteignet und dann nach Westen vertrieben wurden unter Zurücklassung all ihres Besitzes, wird mit keiner Zeile geschrieben. Natürlich wird das Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 zitiert, während die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (August 1945) als lässliche Sünden der USA abgehandelt werden, um den japanischen Imperialismus endgültig auf die Knie zu zwingen.

Der II. Weltkrieg spielt für die polnische nationale Identität eine bedeutende Rolle, immerhin begann er im September 1939 mit dem Beschuss eines Munitionsdepots auf der Westerplatte im Danziger Hafen und dem zeitgleichen Überfall auf den Sender Gleiwitz. Das Gedenken an den II. Weltkrieg erfährt dabei auch eine politische Instrumentalisierung, wie man an den grotesken Forderungen nach deutschen Reparationen in Höhe von 1,6 Billionen Euro während des Wahlkampfes 2023 ablesen konnte, an allen gültigen völkerrechtlichen Verträgen vorbei. Durch die Konferenzen von Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli 1945) wurde die Nachkriegsordnung Europas auf Jahrzehnte festgelegt, deren Signum die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches auf die Länder Osteuropas inklusive Polens war. Die Abschüttelung des kommunistischen Jochs begann im August 1980 ebenfalls in Danzig, mit den Streiks auf der Leninwerft und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. Diese Geschichte wird im nahe gelegenen, sehenswerten European Solidarity Centre rekonstruiert – mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Implosion der UdSSR 1991 endete der II. Weltkrieg nun wirklich. Endlich.