Zauberberg

Hans Castorp steht vor seinem Eintritt ins Arbeitsleben als Ingenieur. Vorher fährt er noch für drei Wochen von Hamburg nach Graubünden, um seinen Vetter Joachim Ziemßen in einer Lungenklinik zu besuchen. Aus der Stippvisite werden geschlagene sieben Jahre als Patient. In seinem Roman „Der Zauberberg“ von 1924 erzählt Thomas Mann von der Weltflucht seines Antihelden, der sich bereitwillig für krank erklären lässt und in der Abgeschiedenheit der Schweizer Bergwelt über den Kreislauf von Werden und Vergehen meditiert.

Thomas Mann (1875 –1955) wurde durch den Aufenthalt seiner Frau Katia in einem Sanatorium in Davos zu seinem „Zauberberg“ inspiriert. Begonnen 1913 als Novelle, sollte der Text ein heiterer Gegenentwurf zum 1911 veröffentlichten „Tod in Venedig“ werden, der das Wüten der Cholera in der Lagune thematisierte. 1924 war das Buch auf einen nahezu 1.000 Seiten messenden Roman angeschwollen und wurde zum letzten Argument für die Verleihung des Literaturnobelpreises 1929. Hans Castorp steht als Dandy im wachsenden Kontrast zur bürgerlichen Welt, bewegt sich immer weiter weg von ihren Konventionen und verbringt seine Muße in der Selbstbetrachtung vor der Majestät der ewig schneebedeckten Gipfel.

Der junge Mann ist fasziniert von der hermetischen wie dekadenten Atmosphäre des „Berghofs“ und seiner Insassen, die an unterschiedlichen Schweregraden der Tuberkulose leiden. Die sehr langwierige Therapie besteht in ausgedehnten Liegekuren in der reinen Luft auf rund 1.500 Höhenmetern, Medikamente gegen die bakteriell bedingte Infektionskrankheit wurden erst in den 1940er-Jahren entwickelt. Unter den Patienten registriert der Besucher klare Rangabstufungen, die Langjährigen und Morbiden stehen über den Neuankömmlingen und leichten Fällen. Der Speisesaal kennt eine feine Hierarchie innerhalb der internationalen Klientel, wie etwa den Guten und den Schlechten Russentisch. Hier werden täglich fünf mächtige Mahlzeiten eingenommen, um dem gesteigerten Grundumsatz in der sauerstoffarmen Luft durch erhöhte Kalorienzufuhr zu begegnen.

Der Gast kultiviert einen stillen Neid auf die Patienten. Besonders das tägliche Fiebermessen fasziniert ihn, der schließliche Erwerb eines Thermometers gerät ihm zur Initiation in den Kreis der „Berghof“-Gemeinde. Die protokollierte Temperatur von 37,6 °C („für den Anfang gar nicht so unbegabt“), begleitet von einem hartnäckigen Schnupfen und einem dezenten Schwindel, weiht ihn in den akzeptablen Krankenstand. Bei der Auskultation durch den Hofrat Behrens, den ärztlichen Leiter des Hauses, werden ihm Vernarbungen in der Lunge attestiert, des Weiteren eine feuchte Stelle („une tache humide“), der ganze Lungenlappen sei bedroht: Hans Castorp solle die Gelegenheit ergreifen und gleich „hier oben“ bleiben, um sich bei strenger Bettruhe vollständig auszukurieren. Damit sei sein Noviziat beendet, er habe Profess getan, wie ein Mitpatient anerkennend quittiert.

Hans Castorp, der sich bislang für gesund erachtete (aber nur, weil er noch nicht hinreichend untersucht worden war), akzeptiert das Therapieregime, das ihm der Hofrat auferlegt. Umwickelt mit wärmenden Kamelhaardecken, liegt er in seinem vorzüglichen Deckchair in seiner Balkonloge, raucht seine Zigarren und genießt das milde Fieber, vor sich das Panorama der Bündner Alpen, des Nachts das Sternenmeer vor schwarzer Ruhe. Anders als sein Vetter hat er keine Probleme damit, sich von seiner Arbeit auf der Werft ferngehalten zu wissen. Joachim Ziemßen hingegen ist des Harrens müde und unternimmt eine „wilde Abreise“ gegen ärztlichen Rat; er will nicht weitere sechs Monate in der Horizontalen vertändeln. Er zieht ein ins Regiment und wird Leutnant – nur um neun Monate später mit einer voll erblühten Zerstörung des Kehlkopfes wieder „hinauf“ zu kommen und binnen weniger Wochen zu sterben.

Neben der Krankheit ist die Zeit ein weiteres Metathema des Romans, genauer ihr Vergehen. So ist „denen hier oben“ ihre kleinste Einheit der Monat. Im dolce far niente liegt paradoxerweise eine Beschleunigung des Zeitempfindens, der Tag wird strukturiert durch die Mahlzeiten und die Liegekuren, die Wochen und Monate erhalten ihre Ordnung durch die Untersuchungen und chirurgischen Eingriffe sowie durch regen Klatsch und Tratsch. Reichlich willkürlich verordnet der Hofrat seinen Patienten resp. Kunden ein weiteres halbes Jährchen im Mikrokosmos Sanatorium, wo es sich aushalten lasse, da es ja wahrlich „kein sibirisches Bergwerk“ sei.

Thomas Mann beschreibt das subjektive Zeiterleben virtuos. So nehmen die ersten 24 Stunden der erzählten Zeit weit mehr als 100 Seiten in Anspruch, im Verlauf des Buches verdampfen ganze Jahre dann in einer einzigen Zeile. Vergeblich sucht Hans Castorp dem Geheimnis der Zeit auf die Spur zu kommen: „Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen wahr, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schön, aber welches ist denn unser Zeitorgan? Willst du mir das mal eben angeben? Siehst du, da sitzt du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genaugenommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen!“

Der Autor lässt Hansen an einer unerfüllten Liebe zu seiner Mitpatientin Clawdia Chauchat leiden, die ihn wegen ihrer kirgisisch hoch sitzenden Wangenknochen an einen Mitschüler, dem er homoerotisch verbunden war, erinnert. Während eines Spaziergangs gerät er in einen Schneesturm, verliert im weißen Inferno die Orientierung und kommt wie durch ein Wunder mit dem Schrecken davon. Die beiden Intellektuellen Leo Naphta (ein Jesuit) und Lodovico Settembrini (ein Fortschrittsoptimist) streiten sich kapitellang über politische und metaphysische Fragen und ringen um den Vorrang als Erzieher der Jugend. Der wuchtige Kaffeebaron Mynheer Peeperkorn ist zwischenzeitlich Clawdia Chauchats Geliebter geworden, Castorps Minne zahlt sich nicht aus.

Am Ende kommt er nach sieben zerdehnten Jahren in der Entrücktheit des „Zauberbergs“ zurück in die Niederungen des Lebens. Der I. Weltkrieg ist ausgebrochen, der febrile Sog militärischer Gewalt erfasst Europa, Hans Castorp findet sich mit Tausenden junger Männer im Höllenbrand der Schützengräben wieder. Kugeln fliegen, Granaten explodieren, Schrapnells heulen, Kommandos werden gebrüllt; die Soldaten hetzen im Laufschritt über regennasse Äcker, Schlamm spritzt ihre Mäntel hoch, Kameraden liegen schwer verletzt im Dreck und verbluten schreiend, am Himmel glänzt das Mündungsfeuer der Geschütze. Wie er sich in dieser Knochenmühle schlagen wird, lässt der Erzähler offen, allen schlechten Aussichten zum Trotz. Sei’s drum, das Leben endet in der Regel tödlich.