Zeitnot

  Carpe diem quam minimum credula postero!
Horaz, Oden

Das Schachjahr 2020 beginnt mit gleich zwei parallelen Großereignissen. In Schanghai und Wladiwostok spielen die Chinesin Ju Wenjun und die Russin Aleksandra Goryachkina gegenwärtig ein Match um die Weltmeisterschaft der Frauen, im niederländischen Küstendorf Wijk aan Zee trifft sich zeitgleich die Weltelite des Schachs zum traditionellen Januar-Turnier. Und so es geht weiter Zug um Zug: Im März kommt es in Jekaterinburg zum Kandidatenturnier der Männer, um den Herausforderer des Champions Magnus Carlsen zu ermitteln; im August geht in Moskau die Schacholympiade über die Bühne; im November steht der WM-Kampf der Männer auf dem Programm, möglicherweise in Dubai oder Buenos Aires.

Bereits anhand der Austragungsorte lässt sich erkennen, dass das alte ehrwürdige Schach längst ein globalisiertes Spiel geworden ist, perfekt für die Ära der Digitalisierung, auch wegen seines entschleunigenden Tempos. Jedes Turnier wird live im Internet übertragen, gefällig kommentiert von kundigen Großmeistern. Dabei fällt auf, dass spezielle Begriffe des Schachvokabulars über nationale Sprachgrenzen hinweg benutzt und verstanden werden. Die deutsche „Zeitnot“ hat es, wie auch der Zwischenzug, der Fingerfehler und der Zugzwang, als Lehnwort bis ins Englische, Französische und Russische geschafft – Цейтнот.

Zum Turnierschach gehört ein für beide Spieler (m/w/d) gleich großes Kontingent an Zeit, innerhalb dessen sie eine vorgeschriebene Zahl an Zügen absolviert haben müssen. Wie lange sie dabei über einen einzelnen Zug nachdenken, bleibt ihnen überlassen. Die Eröffnung, die auf computergestützter Vorbereitung beruht, wird in der Regel schnell gespielt, in rechenintensiven Positionen des Mittel- und auch des Endspiels steigt der individuelle Zeitverbrauch. Von „Zeitnot“ ist dann die Rede, wenn die verbleibende Restzeit zu knapp ist, um jeden noch zu machenden Zug, der ja stets Teil einer Kette von Optionen ist, sorgsam zu bedenken. Profis wollen Цейтнот tunlichst vermeiden, da hier das Risiko für Fehler signifikant ansteigt.

Neben dem Material und dem Raum ist die Zeit das dritte dominante Element einer Schachpartie. Am Beginn stehen sie in einem stabilen Gleichgewicht, im Verlauf der Partie ändert sich ihr Verhältnis in Richtung Sieg, Remis oder Niederlage. Ein ökonomischer, verantwortungsvoller und schöpferischer Umgang mit der zur Verfügung stehenden Zeit ist im Schach wie im Leben angeraten, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können, wenn sie anstehen. Jede Minute ist kostbar, weil sie unwiederbringlich ist – wobei man im Schach wenigstens vorher weiß, welches Quantum für welches Pensum vorhanden ist und wann daher das Blättchen hängt respektive die Stunde schlägt.