Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten? – Gertrude Lübbe-Wolff
Glaubt man führenden Repräsentanten der amtierenden Bundesregierung und ihrem Echo in den öffentlich-rechtlichen Medien, ist die Demokratie hierzulande in großer Gefahr. Das Vertrauen in die republikanischen Institutionen schwinde, Politiker würden vermehrt angefeindet, populistische Stimmungen machten sich im Netz breit, die Ränder des parlamentarischen Spektrums würden über Gebühr gestärkt, der jahrzehntelang eingeübte Kompromiss gerate in Verdacht. Als Lösung dieses empirisch keineswegs eindeutig belegten Problems bietet die Bundesregierung den Entwurf eines sogenannten Demokratiefördergesetzes an (DFördG, Drucksache 20/5823). Darin hält sie einleitend fest, die Gestaltung und Förderung der Demokratie sei nicht allein staatliche Aufgabe, sondern ein Anliegen auch „einer lebendigen, demokratischen Zivilgesellschaft“.
Die Bundesregierung ist weiter der Auffassung, dass der Bund ein „zivilgesellschaftliches Engagement“ nicht verordnen, wohl aber „mithilfe guter Rahmenbedingungen“ fördern könne. Mit dem vorgelegten Demokratiefördergesetz sollen „Projekte im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung verlässlich unterstützt werden“. Mit einer solchen gesetzlichen Grundlage und damit verbundener Absicherung der Fördermaßnahmen gehe ein „Zuwachs an Planungssicherheit“ auch für die Zivilgesellschaft einher – ganz so, als genössen deren Aktivisten, in der Regel Absolventen obskurer Gender, Cultural, Postcolonial, Queer Studies ohne reale Perspektive auf dem Arbeitsmarkt, einen Anspruch auf eine beamtenähnliche Versorgung im politischen Vorfeld.
Wenn die Bundesregierung im vorliegenden Zusammenhang von „fördern“ spricht, ist explizit eine finanzielle Förderung gemeint, teils projektbezogen, teils strukturell, stets langfristig. Das vorgelegte DFördG soll diese Finanzierung nun dauerhaft und konjunkturunabhängig sicherstellen. Bisher erfolgt der mit Abstand größte Posten zur Bezahlung etlicher Akteure der Zivilgesellschaft, verharmlosend auch „Nichtregierungsorganisationen“ genannt, über das Programm „Demokratie leben!“ Ziel dieses Programms und seiner Maßnahmen ist es, dass „unsere Gesellschaft Vielfalt als Chance begreift und die damit verbundenen Widersprüche und Konflikte konstruktiv bearbeitet“. In der ersten Förderperiode 2015 – 2019 wurden kumuliert 431,5 Mio. Euro an Projektmitteln bereitgestellt. Bundesweit werden über das Programm etwa 700 Initiativen unterstützt, vom Klimaschutz über den Gratismut bis zur Antifa.
Der Begriff der „Zivilgesellschaft“ geht auf den marxistischen italienischen Theoretiker und Politiker Antonio Gramsci (1891 – 1937) zurück. Für Gramsci, der als Vorsitzender und Parlamentsabgeordneter der PCI 1926 verhaftet wurde und der seine politiktheoretischen Gedanken im Gefängnis zu Papier brachte, steht die Zivilgesellschaft in ideeller Abgrenzung zur politischen Gesellschaft, also dem Staat und seinen Institutionen. Anders als dieser gehe es jener nicht um das Erringen parlamentarischer Mandate oder das Streben nach Regierungsverantwortung; allerdings könne und solle die Zivilgesellschaft eine sogenannte kulturelle Hegemonie im Sinne der Besetzung und Interpretation bestimmter Themen und Begriffe anstreben, als deren Resultat die Erfolge einzelner Parteien bei Wahlen wahrscheinlich werden. Die beiden Sphären des Staates und der Zivilgesellschaft können sich unter dem Einfluss illiberaler Regierungsstrukturen durchaus vermischen. Darüber hinaus ist die Zivilgesellschaft auch von der Wirtschaft abzugrenzen, ihre Akteure streben nicht nach Umsatz, Profit und Marktführerschaft. Von einer Alimentierung ihrer Aktivitäten durch den Staat ist bei Gramsci allerdings an keiner Stelle die Rede.
Welcher Art die „zivilgesellschaftlichen Akteure“ sind, die vom geplanten DFördG zu unterhalten sind, wird im Gesetzentwurf nicht definiert. Zur Förderung infrage kommen juristische Personen des öffentlichen wie privaten Rechts; letztere müssen von der Finanzverwaltung als steuerbegünstigt, also als gemeinnützig anerkannt sein. In dem Moment aber, wo „zivilgesellschaftliche“, demokratisch nicht legitimierte Akteure wie durch das geplante DFördG seitens der Politik, namentlich einzelner Ministerien dauerhaft und strukturell bezahlt werden, kann von einer Unabhängigkeit und Überparteilichkeit dieser Initiativen nicht ernsthaft gesprochen werden. Vielmehr schaffen sich die finanzierenden Ministerien dergestalt externe Abteilungen, die im Sinne des jeweils geltenden Regierungsauftrags handeln. Gleichzeitig werden von diesen Initiativen rückkoppelnd Forderungen an die offizielle Regierungspolitik artikuliert, die mitunter ihren Weg in Gesetzentwürfe finden.
Bevor die Bundesregierung an die dauerhafte Ausstattung einer „Zivilgesellschaft“ mit angemaßter Autorität zwecks Förderung demokratischen Engagements geht und sich damit eines Teils des eigenen Auftrags begibt, sollte sie sich der undemokratischen Zustände in den gewählten Gremien des Staates annehmen. So wird etwa der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) seit ihrem Einzug ins Parlament 2017 beharrlich ein Sitz im Präsidium des Bundestages entgegen dessen Geschäftsordnung verwehrt; seit der 20. Legislatur gestehen die anderen Fraktionen ihr überdies auch keine Ausschussvorsitze mehr zu, die ihr nach dem Mandatsproporz zukämen; nicht zuletzt werden der parteinahen Desiderius-Erasmus-Stiftung Steuergelder in Millionenhöhe vorenthalten. Hier wird ein hartnäckiger politischer Wettbewerber mit fragwürdigen Verfahrenstricks an der Ausübung seiner parlamentarischen Rechte gehindert – groteskerweise im Namen der Verteidigung der Demokratie.
Die bisher im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Initiativen sind ganz überwiegend im alternativen bis links-grünen Spektrum der Bundesrepublik anzusiedeln; liberale, konservative oder gar rechte Projekte sind praktisch nicht vertreten. Diese über die Jahre homogene Förderpraxis nährt den Verdacht der Klientelpolitik der Bundesregierung; es steht zu befürchten, dass das DFördG diese unrühmliche Praxis der Schaffung zum Teil hochdotierter Versorgungsposten fortsetzen sowie routinisieren und mit dazu beitragen wird, dass der mediale wie kulturell-politische Diskurs der Bundesrepublik Deutschland auf einen links-alternativen Korridor verengt bleibt. Dies wäre das Gegenteil einer offenen, pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, deren Aufrechterhaltung und finanzieller Unterstützung sich das DFördG offiziell verschreibt.
Die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland erscheint keineswegs als „förderbedürftig“, sondern als eingespielt. So werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt; ein Verfahren, das mit Ausnahme der in Teilen verfassungswidrigen Bundestagswahl in Berlin 2021 auch stabil und sicher funktioniert. Nach jeder Wahl entscheidet der Deutsche Bundestag über den neuen Bundeskanzler, es findet also eine rechtlich organisierte, gewaltfreie Ablösung der alten durch eine neue Bundesregierung statt. Die Demokratie als Regierungs- und Herrschaftsform operationalisiert Macht zeitlich befristet; der Wähler entscheidet mit seiner Stimmabgabe darüber, wer über politische Fragen entscheidet. Gleichzeitig ist das verlautbarte Ziel einer Vielfaltgestaltung und ihrer finanziellen Ausgestaltung aufzugeben, da dies paternalistisch und übergriffig gegenüber einer auf Freiheit, Gleichwertigkeit, Individualität und Eigenverantwortung fußenden Gesellschaft wirkt.
Eine tatsächliche „Demokratieförderung“ bestünde daher nicht in der diffusen Alimentierung angeblich für das Gemeinwohl tätiger Initiativen, sondern vielmehr in der Einführung von Elementen der direkten Demokratie nach Schweizer Vorbild, etwa Volksabstimmungen auf Bundesebene, um das Volk, also den Souverän, in existentiellen Fragen direkt entscheiden zu lassen. Weiter gilt es, für das Staatsziel der Extremismusprävention die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden des Bundes organisatorisch, technisch und personell geeignet auszustatten und sie nicht parteipolitisch zu vereinnahmen, damit diese ihrer hoheitlichen Kernaufgabe sicher nachkommen können, anstatt diese Tätigkeiten willkürlich an untaugliche externe Akteure zu delegieren. Hier ist das Handeln des Staates gefragt, aus dem Bereich der Gesellschaft und ihrer Selbstorganisation hat er sich tunlichst herauszuhalten.