Zupagrafika

  Bei der Entwicklung humaner Städte geht es darum, die Stadt mit menschengerechten städtischen Räumen, Achtung vor älteren Gebäudewerten und überlagerter Geschichte zu erneuern und neue Stadtteile in menschlichem Maßstab zu bauen. – Karsten Pålsson

Sibirien ist ein Reich der Extreme. Die nordasiatische Landmasse nimmt etwa drei Viertel der Fläche der Russischen Föderation ein und misst vom Ural bis zum Ochotskischen Meer sowie vom Arktischen Ozean bis nach Kasachstan und zur Mongolei etwa 13,1 Mio. km². Vor gut 400 Jahren, mit dem Machtantritt der Romanov-Dynastie, begann die sukzessive Kolonialisierung des unwirtlichen, aber rohstoffreichen Landes. Ursprünglich von Nomadenvölkern besiedelt, die im Rhythmus der Jahreszeiten mit ihren Tieren die Weiten der Tundra und der Taiga durchmaßen, kamen im 18. und 19. Jahrhundert Militärs, Geografen, Händler, Sträflinge und Verbannte nach Sibirien. Aktuell leben etwa 38 Mio. Menschen in Sibirien, von denen jeder rechnerisch einen Quadratkilometer mit zwei anderen teilt.

Der nördliche Teil der sibirischen Landmasse ist einem kontinentalen Klima ausgesetzt. In den kurzen Sommern werden Temperaturen von bis zu 40° C erreicht, im ewig dunklen Winter fällt das Thermometer regelmäßig auf 50° C Frost und tiefer, der Schnee liegt bis zu neun Monate lang, der Permafrostboden taut auch in den warmen Monaten nicht vollends auf. Sibirien ist die Weltgegend mit den größten bekannten Vorkommen an Bodenschätzen; die sibirischen Metropolen, entstanden aus Dörfern und improvisierten Siedlungen unter der Terrorherrschaft Josef Stalins, sind Arbeiterquartiere rund um gewaltige Industriekomplexe. Omsk ist eine Förderstätte für Öl, Norilsk ist bekannt für die Vorkommen an Nickel und Platin, Krasnojarsk ist ein Handelsknoten und ein Industrierevier, Irkutsk nahe des Baikalsees ist ein wichtiger Halt der Transsibirischen Eisenbahn, Jakutsk ist die kälteste bewohnte Stadt der Welt, Novosibirsk (das Sibirische Chicago) ist eines der stahlverarbeitenden Zentren des Sojus. Über diese der Natur abgetrotzten Agglomerationen hat Zupagrafika einen besonderen Bildband „Concrete Siberia“ vorgelegt.

Hinter Zupagrafika stehen David Navarro und Martyna Sobecka. Der Spanier und die Polin haben ihre Grafikagentur 2012 in Posen gegründet, sie beschäftigen sich mit moderner und brutalistischer Architektur vor allem des ehemaligen Ostblocks, die sie fotografieren und in Buchform publizieren. Der Vertrieb der Bücher und Poster geschieht im Wesentlichen über ihre Webseite und über ausgewählte Partnerbuchhandlungen für Architektur und Design in Europa. Zupagrafika ist mit ihren Fotografien und Modellen im verkleinerten Maßstab auf Design- und Grafikausstellungen präsent, im Diskurs über das architektonische Erbe des Brutalismus im Allgemeinen und in der UdSSR im Besonderen ist die Agentur eine viel beachtete Stimme.

Wie nun bauen in dieser im Grunde unbewohnbaren Gegend, mehrere tausend Kilometer vom europäischen Teil Russlands entfernt? Rohre zum Durchleiten von Gas, Öl und Wasser verlaufen ohnehin oberirdisch, das Anlegen von Fundamenten oder gar Kellern für Gebäude unter der Oberfläche verbietet sich aus dem selben Grund: Wenn aufgrund der künstlich erzeugten Wärme der Permafrost antaut, gerät die ganze Konstruktion von Häusern, Brücken und Straßen ins Rutschen – daher werden Häuser auf Stelzen errichtet. Versuche mit Ziegelsteinen aus den 1940er Jahren haben sich als untauglich erwiesen, heute werden massige Pfeiler mit 12 bis 15 Meter Länge liegend im Boden verankert und bilden das Stockwerk 0 des Gebäudes. Die Fassaden der Häuser werden aus Platten errichtet, die in der Fabrik aus Beton vorgefertigt und auf der Baustelle Etage um Etage montiert werden. Ihre Aussparungen werden im Rohbau mit Fenstern und Türen komplettiert, im Panorama gemahnen sie an gestapelte Container auf einem Frachtschiff.

Diese Plattenbau genannte Konstruktion, die ab den 1960er Jahren stilbildend für die gesamte Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten werden sollte, will ihre Herkunft vom Baustoff Beton nicht verhehlen, setzt ihn sogar offensiv als Gestaltungs- und Formelelement ein. Die Grundfarbe der Fassadenelemente im Band „Concrete Siberia“ von Zupagrafika changiert zwischen beige, grau, weiß, blau und sand; wie bei alten Fotos, die zu lange dem Licht ausgesetzt waren, scheint die Leuchtkraft der Farben gewichen, ihr Ausdruck ist nur mehr schwach und fahl, zudem werden sie geschluckt vom allgegenwärtigen Schnee, der nicht nur Töne dimmt, Entfernungen ins Schwimmen bringt und die Orientierung behindert. Außerdem altert Beton aus ästhetischer Perspektive schlecht: Der Dauerfrost lässt den oberen Anstrich aufplatzen, rinnendes Wasser und emporsteigender Dampf der Heizungen und Klimaanlagen ziehen mit den Jahren dunkle Schlieren auf die Haut, die zu Schäden werden. Die hellen Fugen zwischen den Platten haben den Charakter schlecht verheilter Narben im Baukörper.

Ebenfalls typisch für die sowjetischen Nachkriegsjahre ist das Dekorieren der Fassaden mit farbigen Kacheln, zum Teil als visueller Kontrapunkt zum Trägerton, zum Teil als Kommunikation mit den hier wohnenden Menschen. So ist über dem Eingang des Regionalparlamentes in Novosibirsk das Emblem der UdSSR, Hammer und Sichel im Ährenkranz, auszumachen; Signets der Raumfahrt sind in den Landesfarben Weiß, Blau und Rot als Appell an der Seitenwand eines Hochhauses in Krasnojarsk angebracht; eine 3-D-Grafik in revolutionärem Rot ziert die Seitenwand eines Hauses in Omsk. Und in jeder russischen Stadt, auch in Sibirien, ist der Gründer der Sowjetunion, Vladimir Iljitsch Lenin präsent. Weit überlebensgroß steht die Statue am Eingang der Stadt oder in ihrer Mitte, mal weht der Mantel, hier hebt er den Arm, dann ballt er die Faust, niemals kommt man an seiner mahnenden Gestalt vorbei.

Doch das Eindringliche des Fotobandes von Zupagrafika sind nicht diese kitschigen Versatzstücke eines 1991 implodierten Imperiums, das zu einem Architekturdenkmal unter freiem Himmel geworden wäre. Besonders die Monotonie der Neun,- Zwölf- und Zwanziggeschosser springt ins Auge, die bis heute Menschen beherbergen, Arbeiter, Lehrerinnen, Rentner, Schülerinnen, Soldaten, Babuschkas. Sie tauchen auf den sorgsam arrangierten Bildern nur am Rande auf, als Staffagefiguren, um eine Maßstäblichkeit ins Gesamtbild zu bringen. An den seriellen Fassaden, ohne Schmuck der Balkone, Säulen, Vorsprünge, Kragen und Erker, findet das Auge keinen Halt; in der Vertikalen übernimmt jenseits des Flachdachs das trübe Grau des sibirischen Winterhimmels, in der Horizontalen geht ein Wohnblock in den nächsten über und formt sich zu einer belebten Skulptur aus Glas, Stahl, Beton und Fleisch. Und ob die Spur zwischen einer auf Stützen verlaufenen Gasleitung und einer gesichtslosen Hochhauszeile ein Trampelpfad oder eine notdürftig vom ersten Schnee geräumte Straße ist, vermag das Foto nicht zu entscheiden.

Geradezu drohend werden Bungalows und Kirchen aus Holz und Stein als Reminiszenz an den dörflichen Ursprung der Siedlung von Plattenbauten überragt. Die genannten sibirischen Städte sind nicht über Jahrhunderte gewachsen, sondern wurden im fernen Moskau am Reißbrett der sozialistischen Stadtplanung entworfen und binnen weniger Jahre uniform hochgezogen. Wohntürme der Arbeiter existieren neben den Fabriken und Kraftwerken, die ihnen Lohn, Wärme und bescheidenen Komfort bieten; eine Stadt im europäischen Sinn, in konzentrischen Kreisen vom Zentrum, meist einer Burg oder einer Basilika, über die Viertel in Epochen in die Vororte gewachsen, gibt es hier nicht. Vielmehr eine formlose Verteidigung des Menschen gegen eine stille erbarmungslose Wildnis, die ihre Bodenschätze nur unter herkulischen Bedingungen preisgibt. Zwar finden sich in den genannten Städten Sporthallen, Pionierpaläste, Stadien, Bibliotheken, Museen und Theater, die die Menschen intellektuell und kulturell unterhalten sollen; in ihrer brutalistischen Konstruktion wirken sie aber so einladend wie ein Umspannwerk.

Die Erbauer der sibirischen Städte und ihre ersten Bewohner waren Häftlinge, die im Netz des Gulag zur Sklavenarbeit in den Minen, im Forst und im Steinbruch gezwungen wurden; sie fristeten ihr kümmerliches Dasein in zugigen Baracken und windschiefen Zelten. Doch auch die heutigen Städte, die immerhin Heimat für mehrere Hunderttausend Menschen bieten, sind nicht nach menschlichem Maß entworfen und gebaut, sondern aus dem Geist der Ideologie mit der Zweckbestimmung des Ingenieurs entstanden. Die Industriekombinate in Russlands Fernem Norden zeugen von der gnadenlosen Zeit der 1930er und 40er Jahre, als die Sowjetunion binnen einer Generation auf Geheiß Josef Stalins von einem Agrarland zu einer Industrienation mit Atomwaffen gepeitscht wurde. Die sibirischen Städte wirken wie sadistische Labore, um zu prüfen, was der Mensch unter extremen Witterungs- und Arbeitsbedingungen aushält. Die Geschichte hat ihre Antwort auf das Erziehungsexperiment des Sozialismus gegeben.

In den Metropolen der USA wuchsen die Wohntürme in den Himmel, weil die Grundstücke immens teuer waren; in Sibirien wurde in die Senkrechte gebaut, weil der gebirgige Boden der Taiga und der Tundra nur unter großen Opfern kultiviert werden konnte. Der Beton als Grundstoff der Konstruktion erlaubt das vertikale Bauen, weil er den Kräften des Windes standhalten kann. An die seelischen und physischen Bedürfnisse der Menschen, die in den konfektionierten Wohnungen zu leben hatten, haben die Architekten und Planer nicht zuerst gedacht. Die Heutigen reiben sich die Augen beim Blick auf Bauten, die vom unbedingten Glauben an das Machbare künden, die das Niederringen der Natur als einen weiteren Sieg des Sozialismus feiern. Um die Menschen in diesen gottverlassenen Winkeln der Erde zu halten, ist mehr vonnöten als erkaltete Sowjetnostalgie. Es wäre die Aufgabe einer vernakulären Architektur, mit dem städtebaulichen Erbe des Sozialismus umzugehen, unter Rückgriff auf lokale Materialien und gestalterische Traditionen. Der Band „Concrete Siberia“ von Zupagrafika markiert als Bestandsaufnahme den Nullpunkt dieses Vorhabens.