Zusatzprotokoll

Am 23. August 1939 unterzeichneten die Außenminister des Deutschen Reiches und der Sowjetunion Joachim von Ribbentrop und Vjaceslav Molotov in Moskau einen spektakulären Nichtangriffspakt. Auf zehn Jahre verpflichteten sich die beiden Diktaturen zur friedlichen Lösung möglicher zwischenstaatlicher Konflikte und zur Neutralität im Kriegsfall. Das Besondere dieses sogenannten Hitler-Stalin-Paktes war das geheime Zusatzprotokoll, das die Aufteilung des nordöstlichen Europas im Ostseeraum unter den ideologischen Todfeinden regelte.

Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen der II. Weltkrieg. Im Zusatzprotokoll hatte Josef Stalin seinem deutschen Widerpart Adolf Hitler freie Hand bei der Okkupation Polens zugesichert und im Gegenzug seinen Anspruch auf die jungen baltischen Republiken erhoben. 1940 fügte die UdSSR Estland, Lettland und Litauen gewaltsam ihrem Territorium ein; Finnland, ebenfalls aus der Konkursmasse des Russischen Zarenreiches hervorgegangen und im Protokoll als Teil des Baltikums definiert, konnte hingegen im Winterkrieg 1939/40 seine Souveränität verteidigen.

Die Interessen der beiden Diktaturen am überraschend geschlossenen Vertrag lagen auf der Hand. Das Deutsche Reich wurde bei seinem Expansionsdrang Richtung Osten nicht weiter von einem ernsthaften Gegner gestört, während die industriell rückständige Sowjetunion, die zudem vom Nachbeben des Großen Terrors der Jahre 1936 bis 38 erschüttert wurde, sich außenpolitisch absichern wollte. Doch der kalte Frieden zwischen den Regimes währte nicht lange: Am 22. Juni 1941 überquerten deutsche Flugzeuge und Panzer die sowjetische Westgrenze, das „Unternehmen Barbarossa“ eskalierte.

Die im Zusatzprotokoll (das sechs Jahre nach der Unterzeichnung bekannt wurde und dessen Existenz die sowjetische Führung bis zum Dezember 1989 leugnete) vereinbarte Annexion des Baltikums wurde von den Alliierten nach 1945 gebilligt. Estland, Lettland und Litauen wurden nach der deutschen Herrschaft von 1941 bis 44 in die Kollektivierung gezwungen, die KP übernahm das Kommando, Zehntausende Menschen wurden in den Gulag deportiert oder gleich erschossen. Finnland musste Teile Kareliens an die UdSSR abtreten, behielt aber seine Unabhängigkeit. In den Jahren des Kalten Krieges verfolgte Finnland einen außenpolitisch neutralen Kurs, bis heute ist das Land kein NATO-Mitglied.

Die periphere Lage im Sowjet-Imperium bot den Menschen der estnischen, lettischen und litauischen SSRen eine gewisse kulturelle, nationale und auch ökonomische Zuflucht – nicht umsonst wurde das Baltikum als „unser Westen“ (nas zapad) bezeichnet. Zum 40. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes 1979 forderten Dissidenten im „Baltischen Appell“ ein Ende der sowjetischen Besatzung. Doch erst Glasnost und Perestroika machten es möglich, dass sich am 23. August 1989 geschätzte zwei Millionen Menschen zu einer 600 Kilometer langen Kette von Tallinn über Riga bis Vilnius zum „Baltischen Weg“ zusammenschlossen. Im Zuge der Epochenwende 1989/91 implodierte die UdSSR, Estland, Lettland und Litauen erlangten ihre Eigenstaatlichkeit zurück.