Zeit

  Time waits for no one and it won’t wait for me – The Rolling Stones

Marcel Proust (1871 – 1922) hat die vollständige Veröffentlichung seines Romanzyklus „A la recherche du temps perdu“ nicht mehr erlebt. Die ersten vier Bände konnte er noch zum Druck vorbereiten, die Bände fünf, sechs und sieben hat sein Bruder Robert aus dem handschriftlichen Nachlass ediert. Marcel Prousts größte Furcht nach dem Entschluss zum Verfassen des Romans war, dass ihm nicht mehr genügend Zeit zu seiner Fertigstellung bleiben könnte. Seit 1908 arbeitete er, zurückgezogen vom gesellschaftlichen Leben, an seinem Kunstwerk. Den ersten Band „Du coté de chez Swann“ publizierte er auf eigene Kosten 1913 bei Grasset, der zweite Band „A l’ombre des jeunes filles en fleurs“ wurde 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und machte den Autor schlagartig berühmt. Im Frühjahr 1922 verkündete der kranke und erschöpfte Marcel Proust seiner Haushälterin Céleste Albaret stolz, er habe das Wort „Fin“ unter die letzte Zeile geschrieben – „Le temps retrouvé“ erschien posthum 1927.

Im ersten Band eröffnet die legendäre Madeleine-Szene das Prinzip der willkürlichen Erinnerung. Der Erzähler trinkt beiläufig eine Tasse Tee und tunkt ein Stück des süßen Gebäcks hinein, dessen Geschmack löst eine Flut an Erinnerungen an seine Kindheit im ländlichen Combray aus. Im abschließenden siebten Band findet dieses Prinzip ein Echo. Auf dem Weg zu einer Matinee bei der Prinzessin von Guermantes stolpert der Erzähler über eine Unebenheit auf dem Straßenpflaster, was zu einem weiteren Hagel präziser Erinnerungen an sein verschüttet geglaubtes Leben als Dandy in den Salons der Pariser Aristokratie führt. Dieses Mal fasst er den Entschluss, sich fortan komplett dem Schreiben seines Werkes, das er in Form von Beobachtungen, Eindrücken, Lektüre und Reflexionen in sich trägt, zu verfassen. Für ihn wird die literarische Arbeit identisch mit dem Leben: „Das wahre Leben, das endlich entdeckte und ans Licht gebrachte Leben, das folglich einzige voll und ganz gelebte Leben, ist die Literatur.“

Das Prinzip der willkürlichen Erinnerung, das mit den genannten Episoden das voluminöse Werk umrahmt, strukturiert den Roman in konzentrischen Kreisen. Erinnerungen, ob nun zufällig ausgelöst oder durch konkrete Begegnungen oder Orte beschworen, verlaufen sprunghaft, in Wellen, in sich ändernden Intensitäten und Lautstärken. Sie sind niemals vollständig identisch mit dem Erlebten, das sie in die Gegenwart des Geistes holen, sondern subjektiv, arrangiert und beschönigend. Dementsprechend verläuft die Reise durch die „Recherche“ wie ein Traum, für den die Gesetze der Logik, der Kausalität, der Schwerkraft und vor allem der Zeit nicht gelten. Immer wieder springt der Autor zwischen den memorierten Begebenheiten aus seiner Kindheit, seiner Jugend, seinem Erwachsenenalter und dem Verwelken hin und her; Interpretationen und Beschreiben lösen einander ab, launige Dialoge beim Diner folgen wahllos auf Meditationen über ein Kirchenfenster, Autor, Erzähler und Leserin können den Faden der Geschichte nicht immer aufnehmen. In der Schlussszene der „Temps retrouvé“ besucht der Erzähler nach Jahren der gesellschaftlichen Abstinenz eine Matinee und begegnet dort seinen alten wie gealterten Freundinnen und Freunden. Anfangs wähnt er sich auf einem Maskenball, bis ihm aufgeht, dass die veränderten Gesichter und Körper seiner alten Welt von der Zeit verwüstet wurden.

Auch wird ihm in den Gesprächen mit den anderen Gästen klar, dass er selbst unbemerkt ein Opfer der Jahre geworden ist. So nennt ihn die Herzogin von Guermantes, die er als Heranwachsender heimlich begehrt hat und die ihn später in den Salons des Faubourg Saint-Germain protegiert, ihren „ältesten Freund“. Unfreiwillig komisch gerät seine Bemerkung zu seinem Jugendschwarm Gilberte Swann, mittlerweile selbst Mutter einer 16 Jahre alten Tochter, er wolle sie als „junger Mann“ als Begleiter nicht kompromittieren. Er wird auf der Matinee auf seinen fehlenden Beruf ebenso angesprochen wie auf sein Unverheiratetsein und auf seine Kinderlosigkeit – offenbar erwartet man von einem Mann fortgeschrittenen Alters eine Position und eine Familie, welche er beides nicht hat. Er muss feststellen, dass etliche Damen und Herren der feinen Gesellschaft verstorben sind oder schwer krank daheim im Bette liegen; diejenigen, die sich noch an „früher“ erinnern, schwinden merklich, während die Nachkommen bürgerlicher Emporkömmlinge, die seinerzeit nicht einmal auf der Straße gegrüßt wurden, nun zu den Eingeladenen zählen.

Seine Großmutter ist schon länger tot, der feinsinnige Sammler von Antiquitäten und Freund der Familie Charles Swann ist nur noch ein ferner Name ohne Klang, sein Freund Robert de Saint-Loup ist im I. Weltkrieg gefallen, seine Geliebte Albertine Simonet hat ihn beizeiten verlassen und ist kurz darauf bei einem Reitunfall in der Touraine ums Leben gekommen, der hochmütige und großzügige Baron de Charlus ist mit weißem Haar und stummen Lippen nach einem Schlaganfall ein atmender Leichnam, dessen Bruder der Herzog von Guermantes kann sich auf dem Gipfel seiner 83 Jahre nicht mehr aufrechthalten, seiner Geliebten zum Trotz. Die Matinee im letzten Band führt dem Erzähler unbarmherzig vor Augen, dass der Großteil seiner Lebenszeit verstrichen und der Tod in die Nähe gerückt ist; er, der so lange an seiner Eignung zum Schriftsteller gezweifelt hat, will die Jahre, die ihm noch bleiben mögen, vollends dem Schaffen, dem Schreiben widmen.

Dem Autor bleibt die schöpferische Zeit zum Verfassen seines Zyklus erhalten, zum Glück des Lesepublikums auch heute. Proust legt ein Werk vor, das es in dieser Form bislang nicht gegeben hat. Er bricht mit einem chronologischen Aufbau in der Tradition des Romans; er schildert das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven, dabei die subjektive des Erzählers mit der allwissenden des Autors vermengend; er ignoriert das lineare Verstreichen der Zeit ebenso wie die begrenzte Kapazität des Gehirns zum Verarbeiten von Reizen. Die „Recherche“ ist fraglos fiktiv, präsentiert aber zahlreiche Personen der Pariser Belle Epoque kaum verschlüsselt als Staffage. Wahrheit wird Proust eine nicht mitteilbare, persönliche Aussage über die Wirklichkeit, die gleichrangig neben denen anderer steht; die Kunst ist ihm das einzige Mittel, die „verlorene Zeit“ zu bannen, das Erlebte als Werkstoff zu nutzen: „Der Eindruck ist für den Schriftsteller das, was das Experiment für den Gelehrten ist, mit dem Unterschied, dass beim Gelehrten die Verstandesarbeit vorausgeht, beim Schriftsteller aber nachfolgt.“

Das Werk, als Sonate, als Gemälde, als Kathedrale oder im Falle Marcel Prousts als Text, ist ein Ausrufezeichen gegen das Verstreichen der Zeit. Dem Autor ist es bewusst, dass auch sein Leib einmal zu gemeiner Würmerkost werden wird und dass sein Funktionieren die Voraussetzung zur Kreativität ist; doch im Werk wird die Zeit aufgehoben, in ihm ist die Arbeit, die zu seiner Fertigstellung notwendig war, abzulesen. Diese vollzieht sich, wie jede menschliche Tätigkeit, in der Zeit, die eben nicht zugleich für eine andere genutzt werden kann. Nach einem sorglosen und eitlen Leben als Plauderer und Feuilletonist der feinen Gesellschaft der III. Republik, opulent ausgebreitet in „Le coté de Guermantes“ und in „Sodom et Gomorrhe“, folgt Proust schließlich dem Ruf des Werkes, das er dem Publikum vorlegt als Spiegel seiner selbst: „Das Werk des Schriftstellers ist nur eine Art optisches Instrument, das er dem Leser anbietet, damit dieser erkennen kann, was er ohne dieses Buch in sich selbst vielleicht nicht zu sehen vermocht hätte.“

Jeder Mensch ist angefüllt mit den Stunden seines gelebten und den Plänen seines künftigen Lebens, das sich auf der materiellen Ebene als Verfall lesen lässt und auf der geistigen Ebene als Entfaltung. Die Ausdehnung des menschlichen Daseins findet dabei im Raum ebenso statt wie in der Zeit. Der Begriff der „verlorenen Zeit“ ist missverständlich, besser sollte von der „vergeudeten Zeit“ die Rede sein, von der nicht im künstlerischen Sinne genutzten Zeit. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die zu den großen Denkschulen des 20. Jahrhunderts werden sollte, rekonstruiert und ordnet die weiter wirkende Vergangenheit durch Assoziationen, durch fließendes Reden und durch eine Analyse der Träume; auch hier wird eine Biografie durch die zur Sprache gebrachten Erinnerungen gerahmt und mit Sinn aufgeladen. Der Roman im Sinne Marcel Prousts ist eine Nachnutzung des im Gedächtnis aufbewahrten Lebens für die Kunst, dabei sich provozierend erinnernd wie bewusst vergessend.

Das Buch, das der Autor zu schreiben sich entschließt, wird ihm alles abverlangen, was er zur Verfügung hat: Er wird „es ertragen wie eine Strapaze, sich ihm unterwerfen wie einer Ordensregel, es aufbauen wie eine Kirche, ihm folgen wie einer Verschreibung, es besiegen wie ein Hindernis, es erobern wie eine Liebschaft, es verwöhnen wie ein Kind, es erschaffen wie eine Welt“. Dafür muss er seine gesellschaftlichen Kontakte schleifen lassen, er kann nicht länger die Einladungen zu Konzerten, Rezitationen und Soireen annehmen, Briefe bleiben unbeantwortet, die Arbeit findet bevorzugt des Nachts statt, der Tag dient dem Schlaf und der Ruhe. Die heiteren Stilimitationen berühmter Autoren wie Balzac, Baudelaire, Chateaubriand und Musset finden ihr Ende, nun hat Proust seine eigene Stimme gefunden. Und über allem liegt die Frage, ob es für das, was er zu sagen hat, nicht schon zu spät sei.

Die Antwort des Autors Marcel Proust fällt unvergleichlich aus. Sein Ziel ist es, den ewigen Strom der Zeit einen Moment lang anzuhalten, dem Augenblick die Dauer eines Atemzuges zu verleihen, das unweigerliche Vergessen um einen Händedruck, eine Umarmung und einen Kuss zu verzögern. Am Ende des siebten Bandes angekommen, ist die Leserin von der Melancholie des Abschieds erfüllt, der sie die Vorfreude auf eine baldige Re-Lektüre entgegenstellt. Der Autor Proust entgeht der Maßlosigkeit der Zeit, die ja bezogen auf die kurze Dauer des eigenen Lebens monströs wirkt, indem er auf Angaben zu Mengen, Größen und Verläufen weitgehend verzichtet. Jahreszahlen werden ebenso selten genannt wie Geburtstage, von Geldsummen erfährt man ebenso wenig Konkretes wie von Stimmverhältnissen bei der Wahl in den Jockey oder von der Entfernung zwischen Venedig und Balbec. Ganz so, als akzeptiere der Autor Proust das individuelle, stets relative Erleben der Zeit in der Seele der Einzelnen; das Glöckchen am Gartentor in Combray, das ihm in seinem Zimmer das Gehen des Gastes Charles Swann und den baldigen Gutenachtkuss seiner Mutter anzeigt, ist eine Erinnerung an seine Kindheit, mehr nicht.

Am Ende reichen des Autors Zeit und Kraft, um sein Werk, das etwa 1,1 Millionen Wörter umfasst, zu vollenden; sein chronisches Asthma hindert ihn ebenso wenig daran wie der I. Weltkrieg. Der zirkulär komponierte Roman, der mehrfach erweitert und umgebaut wurde (so wurden „La prisonnière“ und „La fugitive“ nach einer existentiellen Liebeskrise zusätzlich in die Erzählung aufgenommen), vereint die Qualitäten eines edlen Parfums, einer Spritze betäubenden Morphins, eines sättigenden Gerichtes und eines belebenden Spaziergangs. Die labyrinthischen Sätze Marcel Prousts mit ihren gelehrsamen Metaphern und ihrem Humor leichter Hand geleiten die Leserin in den Schlaf und ankern auf dem Grund ihrer Seele; wenn der Morgen erwacht und sie sich noch trunken im Bette wälzt, klopft die Erinnerung an das am Abend Gelesene an ihre Stirn. Ohne sagen zu könne, wie lange sie genau geschlafen hat, spürt sie durchaus, ob sie sich ausreichend im Dunklen erholt hat. Das Leben beginnt von neuem, der neue Tag ist wie der erste.