Jede Krise hat ihre Profiteure. Die politischen Maßnahmen, die seit gut einem Jahr die Menschen weltweit in ihre Wohnungen verbannen, fördern deren Selbstbeschäftigung. Viele Menschen entdecken die Welt der Streamingdienste und Pornoplattformen, andere machen Online-Yoga, wieder andere verbringen etliche Stunden des Tages tobend auf Social Media-Kanälen. Das ehrwürdige Schachspiel, etwa um das Jahr 500 als Zeitvertreib der Brahmanen in Indien entstanden und in der Renaissance über Persien und Arabien nach Europa gelangt, hat sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine digitale Infrastruktur geschaffen. Computer und Engines, Videotraining und Datenbanken gehören heute zum Handwerkszeug der Profis wie der Vereinsspieler, Turniere werden online übertragen und kommentiert, digitale Blitzpartien sind Teil des schachlichen Alltags. Und in der chronischen Corona-Krise steigt zusätzlich der Absatz klassischer Turniersätze aus Figuren und Brettern aus Holz.
Der Schachversand Niggemann ist Deutschlands erste Adresse für Schachbedarf. 1985 gegründet, domizilierte das Unternehmen zunächst in Heiden im westlichen Münsterland, nach dem Wechsel der Eigentümer vor zwei Jahren sitzt der Großhändler in einem Gewerbegebiet am Rand der Westfalenmetropole. Auf 500 m² wird den Kunden die ganze Welt des Schachspiels geboten: Dazu zählen Schachbücher für Großmeister wie für Amateure, Zeitschriften, DVD und Software, Pokale und Partieformulare sowie natürlich Schachbretter und Figuren in allen Ausführungen, von der Garnitur im Turnierstandard über das Set für Schulklassen bis hin zu Sammlerstücken aus Alabaster, Bernstein oder Chrom. Niggemann beliefert in erster Linie den Einzelhandel des Schachs, ist aber auch offen für Endkunden. Diese finden sich gerade in der Pandemie verstärkt ein – Schach erlebt einen Boom, sein Image wandelt sich von nerdig in Richtung cool.
Ein unerwarteter Treiber ist die Netflix-Serie „The Queen’s Gambit“, die die fiktive Geschichte eines Waisenmädchens auf seinem Weg zum Olymp des Schachs in den 1950er und 60er Jahren erzählt. Hier haben die Filmemacher, die viele Szenen in und um Berlin mit seinem Sowjetflair gedreht haben, das Unternehmen Niggemann angesprochen, um sich mit zeitgemäßen Requisiten des Schachspiels auszustatten. Dazu gehört auch die klassische Schachuhr „Garde“ aus dem VEB Ruhla der DDR, die gerade ein Revival erlebt. Heutige Schachuhren funktionieren digital, werden per Batterie betrieben und erlauben eine Zeitzugabe pro Zug, sind aber anders als die von Hand aufzuziehende „Garde“, die noch bei den WM-Kämpfen zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum Einsatz kam, keine Design-Schmuckstücke. Niggemann, unter anderem Ausrüster der Schachbundesliga, könnte locker etliche Exemplare dieser Ikone verkaufen, muss aber Interessenten vertrösten, weil der Hersteller derzeit nicht liefern kann.
Ähnliches gilt für Bretter und Figuren. Hier hat Niggemann im vierten Quartal 2020 seinen Umsatz im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. Gottlob liefern die Produzenten edler Sätze aus Spanien und Frankreich endlich wieder Ware, sodass Niggemann seine alten wie neuen Kunden in Deutschland und Europa bedienen kann. Das Schachkaufhaus ist Vertriebspartner für Schachliteratur amerikanischer, britischer und russischer Verlage; auch Software zur Vorbereitung und zur Analyse der Partien, namentlich vom Hamburger Marktführer ChessBase, wird professionell vertrieben, inklusive der Beratung im Ladengeschäft, soweit gewünscht. Die Schachzeitschrift „New in Chess“, herausgegeben im niederländischen Alkmaar, ist seit Jahrzehnten eine feste Größe im internationalen Schachleben, auch sie findet sich im Sortiment des Schachversandes. Kürzlich wurde die NiC mehrheitlich von der börsennotierten „Play Magnus Group“ des norwegischen Schachweltmeisters Magnus Carlsen übernommen, was prompt für rege Diskussionen in der Schachcommunity über die Unabhängigkeit des „world‘s leading chess magazine“ führte.
Der technische Fortschritt speziell auf dem Gebiet der Computer hat das Schachspiel grundlegend verändert, nicht von den Regeln her, wohl aber von seiner Organisation. So war bis Mitte der 1990er Jahre die sogenannte Hängepartie die Regel, bei der eine Partie nach dem 40. Zug und maximal fünf Stunden abgebrochen und am kommenden Spieltag wieder aufgenommen wurde. Die Sekundanten des Großmeisters analysierten meist nachts die Abbruchstellung, um die beste Fortsetzung zu finden. Die immer stärker werdenden Computer haben diese Tradition nüchtern beendet, weil sie anders als der Mensch binnen Sekunden stets die ideale Fortsetzung finden und das Spiel klinisch ersticken; heute kann eine Partie sechs und mehr Stunden dauern, sie findet ihr Ende aber verlässlich am selben Tag. 1995 hatte Garri Kasparow bei seinem WM-Match gegen Viswanathan Anand erstmals eine Eröffnungsüberraschung mit Hilfe des Computers vorbereitet, 1997 verlor er dann einen spektakulären Schaukampf gegen den Computer „Deep Blue“ von IBM.
Bei Niggemann findet die Interessierte auch zu diesen schachhistorischen Fragen Literatur; diese ist allerdings nach dem Alphabet und nicht nach Wissensgebieten geordnet, sodass das Stöbern in den Regalen etwas beschwerlich ist. Ein Besuch bei Niggemann im Gewerbegebiet ist aber in jedem Fall lohnend, das Verkaufsteam ist hilfsbereit und nimmt sich Zeit für die Beratung auch und gerade von Anfängern. Im Schachkaufhaus in Gegenwart von hölzernen Figuren im Staunton-Stil zu sein, erinnert die Schachfreundin daran, dass Schach eben nicht nur eine Mischung aus Kunst, Wissenschaft und Sport ist, sondern auch soziale Interaktion mit realen Menschen am Brett. Der traditionelle Handschlag vor und nach einer Partie ist bis auf weiteres ausgesetzt; als allerdings Mitte Januar das berühmte Turnier in Wijk aan Zee an der niederländischen Küste begann, hockten die Kiebitze vor ihren Rechnern und verfolgten das Geschehen via Internet. Der überraschende Sieg des jungen Niederländers Jorden van Foreest hat das kleine Nachbarland elektrisiert.
Voller Vorfreude blicken die Fans nach Jekaterinburg, wo Mitte April die zweite Hälfte des Kandidatenturniers, das im März 2020 pandemiebedingt unterbrochen worden war, gespielt werden wird. Auch wenn Schach sich für das Spielen im Internet eignet wie Korsika zum Bergwandern, bleibt das Spiel mit den Figuren unter den Händen unerreicht. Anders kann man es nicht erklären, dass derzeit viele Menschen den Weg zu Niggemann finden, unter ihnen vermehrt Frauen. Die schmeichelnde Haptik des Spiels bleibt ein Zauber, den auch die stärkste Software auf dem schnellsten Rechner dem Schach nicht austreiben kann, sei es auf der Ebene der Elite-Großmeister, der Vereinsspieler, der Schüler oder der Patzer. Das Kommunizieren mit den Figuren geht in der 3-D-Version deutlich besser, ein Gespür für Zeit und Raum im Schach entwickelt man am Brett besser als am Monitor. Das sagen auch die Spitzenspieler, die nach einem Jahr der Dürre endlich wieder im Turniersaal sitzen dürfen. Niggemann wird es freuen – der Schachversand hat für jeden Geschmack und für jedes Portemonnaie etwas im Angebot, während und erst recht nach der Pandemie.