Gerleve

Die Fassade der Basilika ist aus grobem, beige-grauem Ibbenbürener Sandstein und verleiht dem Bau Festigkeit, das Interieur besticht durch Schlichtheit und Strenge. Der Boden ist aus cremefarbenem Marmor, die Wände und Säulen sind hell getüncht und reflektieren den Lichteinfall aus den Rosetten. In der Apsis hinter dem Altar auf spiegelndem Granit hängt eine mittelalterliche Kreuzigungsgruppe im unvollendeten Ostchor, im rechten Winkel zur Vierung sitzen die Mönche in schwarzen Kukullen beidseitig im braunen Gestühl. Wenn sie deklamieren, wird der magische Klang ihrer Stimmen bis unter die knapp 19 Meter hohe Decke getragen. Ihr Gotteslob auf Deutsch und auf Latein öffnet Geist und Seele, hier ist heiliger Boden zur Feier des Geheimnisses des Glaubens.

Die Benediktinerabtei Sankt Josef im westfälischen Gerleve ist trotz der katholischen Umgebung eine relative Neugründung. Ende des von der Säkularisierung leidgeprüften 19. Jahrhunderts stifteten die drei erbenlosen Geschwister Wermelt ein Grundstück auf einer Anhöhe zwischen Billerbeck und Coesfeld zur Errichtung eines Klosters. Nachdem einige Orden wegen der abgeschiedenen Lage abgewinkt hatten, griffen die Benediktiner schließlich zu. 1899 kamen die ersten Mönche, arbeiteten auf dem Wermeltschen Bauernhof und begannen mit dem Bau der Abtei sowie der angrenzenden Kirche, die bereits 1904 die ersten Gottesdienste sah, wenn sie auch erst 1950 geweiht wurde.

Die Baumberge, die Provence Westfalens, bilden einen sanften Hügelzug etwa 30 Kilometer westlich von Münster. Der liebliche Landstrich ist von tiefer Volksfrömmigkeit gezeichnet, zahlreiche Bildstöcke, Kruzifixe und Madonnenstatuen am Wegesrand und vor Bauernhöfen künden davon. Wanderungen und Radtouren in dieser Parklandschaft mit ihren Feldern, Hainen und Wiesen, aus denen einzelne Gehöfte herauswachsen, geraten zu Exerzitien der Bewegung. Der Mistgeruch im Freien steht dabei in lebhaftem Kontrast zum Weihrauchdunst rund um den Altar. Die Stille über der dünn besiedelten Erde wird im Viertelstundentakt durchbrochen, wenn die Glocken der Abteitürme an das Vergehen der Zeit erinnern.

„Man kann nicht gerade behaupten, das Leben im Kloster sei aufregend“, beschreibt der Gerlever Abt Laurentius Schlieker die Gottsuche der Mönche und ihrer Gäste. „Dennoch kann die scheinbar unbewegliche Umgebung eine Spannung auslösen, die bereit macht für das Neue: Man muss sich selbst ohne Ablenkung ertragen, um das Neue kommen lassen zu können. Aus der Konfrontation mit den bewährten Traditionen, aus dem inneren Kampf zwischen eigenem Impuls und dem Vorgegebenen kann sich in der Synthese eine Neuorientierung ergeben, für den Mönch in der Krise manchmal eine echte Überraschung.“ Das gilt auch für Laien, die zu Einkehr und Einzeit im Exerzitienhaus Quartier beziehen.

Zur Identität des Ordens zählt seit jeher der gregorianische Gesang, der während der täglichen Stundengebete und der Eucharistie gepflegt wird. Im Kloster leben professionelle Kirchenmusiker, die die Fratres in der Sanges- und Rezitationskunst unterweisen; die exzellente Akustik der Klosterkirche trägt den Klang auch ohne Verstärker. Das Ergebnis ist ein vollendeter Gesang aus vielen Kehlen, der wie eine einzige Stimme daherkommt und dabei die unterschiedlichen Sänger und Tonlagen unterscheiden lässt. Wenn die Litanei von der Orgel begleitet wird, lässt das Instrument die irdischen Töne schweben, die sich auf den Steinen ablagern.

In den 1910er Jahren wurde mit dem Bau eines Hotels neben der Abtei nach Plänen des Architekten Pater Ludger Rincklake OSB begonnen. Das Haus wurde aus für Westfalen typischen roten Klinkern errichtet, Sockel, Türen und Fenster sind im blassen Sandstein eingefasst. In den 1920er Jahren wurde das Gebäude zum Exerzitienhaus Ludgerirast umgewidmet, um die Gäste der Abtei angemessen unterbringen zu können. Sie finden bis heute Aufnahme in Klausen ohne Telefon, Internet und Fernseher, leiblichen Hunger und Durst stillen sie im Speisesaal mit klarem Wasser und frischen Gerichten aus regionalen Zutaten.

Das Gästehaus wurde, um der steigenden Nachfrage Rechnung zu tragen, Mitte der 1960er Jahre um einen Anbau vergrößert, in dessen Erdgeschoss eine vorbildlich bestückte Buch- und Devotionalienhandlung eingerichtet ist. In den 1980er Jahren erfuhr das Ensemble eine bis heute prägende Erweiterung. Der im nahen Dülmen ansässige Architekt Josef Paul Kleihues realisierte das Jugendgästehaus Sankt Benedikt und die Klostergaststätte sowie die Kapelle im Exerzitienhaus als Scharnier zwischen altem und neuem Gebäudeflügel.

Die gegenwärtig knapp 40 Gerlever Mönche geben gemäß der Regel des heiligen Benedikt von Nursia (480 – 560) der Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert, ihnen sind Menschen aller Bekenntnisse und Weltanschauungen willkommen – man begegnet einander in einer Haltung wechselseitiger Billigung. In Ludgerirast werden rund ums Jahr spirituelle Angebote unterbreitet, von der Trauergruppe und dem Mutter/Tochter-Wochenende über die Bibelexegese und das rituelle Fasten bis zum Achtsamkeitsseminar für Führungskräfte und der Aquarellmalerei. Diese Bildungs- und Kulturarbeit trägt längst zum wirtschaftlichen Fundament des Klosters bei; die ursprünglich wichtige Landwirtschaft findet dagegen, weil unrentabel geworden, nur noch symbolisch statt.

Das Geschenk, das die Abtei Gerleve ihren Besuchern (m/w/d) über alle Feste im Jahreskreis hinweg macht, ist das Verblassen der Sorgen und das Vergessen der Fragen, mit denen beladen sie kommen. Die Lösungen aller Probleme beginnen mit dem Zuhören und der Kontemplation, Antworten lassen sich paradoxerweise im Schweigen finden. Dazu passt es, dass im Exerzitienhaus regelmäßig Sesshins abgehalten werden, angeleitet von einem Benediktiner – das absichtslose Staunen gehört zur spirituellen Erfahrung des katholischen Glaubens wie des Zen.