Die Luft ist kalt und klar, frisch wie auf dem Land, im Sommer betörend wie im Blumenbeet. Beim adventlichen Spaziergang durch das ruhige Quartier kommt die Flaneurin an etlichen weihnachtlich geschmückten Häusern vorbei. Sie kann sich treiben lassen entlang der vielen Hecken und Stauden, kaum ein Auto kreuzt ihren Weg und die wenigen Passanten grüßen freundlich. Die Aaseestadt im Südwesten Münsters ist ein Westfalen en miniature, der üppige Garten ist ein gutes halbes Jahrhundert alt.
Wie so viele deutsche Städte wurde die alte Hansestadt Münster im II. Weltkrieg schwer zerstört, rund 90 % der Innenstadt wurden durch Fliegerangriffe in Trümmer gelegt. In der Nachkriegszeit entschied sich der Rat der Stadt klugerweise für eine Rekonstruktion der historischen Patrizierhäuser mit den typischen Giebeln zwischen Überwasser und Lamberti; gleichzeitig galt es, rasch Unterkünfte für die Ausgebombten und Flüchtlinge zu schaffen. Am südwestlichen Stadtrand lag eine weitgehend unerschlossene Brache aus Feldern, Wiesen und Gehöften. Hier begann Mitte der 1950er Jahre das Keimen der später sogenannten Aaseestadt, einem grünen Viertel zwischen Koldering und Autobahnanschluss.
Heute ist das Areal durch die Flurbereinigung der 1970er Jahre und das anhaltende Wachstum der Domstadt (gegenwärtig 313.000 Einwohner (m/w/d)) längst Teil des Stadtganzen. Reihenhäuser aus dunkelrotem Klinker dominieren die Siedlung farblich und baulich, ergänzt um dreigeschossige Riegel mit Mietwohnungen, die umflossen werden von ausladenden Grünanlagen, in denen Kaninchen heimisch sind. Eingestreut erheben sich umgestaltete Bauernhäuser und zurückhaltende Stadtvillen. Das Quartier ist mit dem Fahrrad, dem bevorzugten Verkehrsmittel der Bevölkerung, in einer Viertelstunde vom Zentrum aus erreichbar.
Im Alltag liegt über dieser Kolonie der Bürgerlichkeit eine schläfrige Stimmung, die durch Lachen aus der Kita, Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Baumkronen sowie das Rattern der Rasenmäher akustisch begleitet wird. Die Erstbewohner der Aaseestadt, die Anfang der 1960er Jahre ihre Eigenheime bezogen, sind im Pensions- resp. Pflegealter, wovon neben den Bugaboos der Enkelkinder die Rollatoren auf den Bürgersteigen künden. Im Zuge des Generationenwechsels werden die über 50 Jahre alten Häuser sukzessive entkernt und auf Barrierefreiheit geeicht, freigelegte Grundstücke werden unter dem Gebot der Nachverdichtung mit zusätzlichen Einheiten bestückt.
Die begehrte Adresse dient primär dem Wohnen, das vorgeschriebene Tempo 30 auf den Straßen wird umstandslos eingehalten. Wiewohl am Reißbrett entworfen und binnen weniger Jahre auf westfälischem Acker gezogen, hat sich die Siedlung zu einem organischen Ganzen entwickelt, das angesichts komplexer urbaner Konflikte um Arbeiten, Erholung, Konsum und Verkehr erstaunlich harmonisch wirkt. Der namensgebende Aasee, Anfang der 1970er Jahre künstlich auf das Doppelte seiner Fläche vergrößert und zwischenzeitlich mit Exponaten verschiedener Skulptur-Ausstellungen kulturell angereichert, ist fußläufig bequem zugänglich. An seinem nördlichen Ufer liegen das Freilichtmuseum Mühlenhof und der Allwetterzoo Münster.
Das Idyll der langsamer als andernorts vergehenden Zeit wird sprachlich gestört, die Straßen tragen die Namen von Widerstandskämpfern im III. Reich: Stauffenberg und Ossietzky, Klausener und Bonhoeffer, Scholl und Beck, Delp und Goerdeler. Die katholische Kirche Sankt Stephanus, im Dezember 1965 geweiht, ist dem ersten Märtyrer des Christentums (Apg 7,54-60) gewidmet und feiert am Zweiten Weihnachtstag ihr Patronatsfest. Der von außen abstrakt an ein Schiff gemahnende Bau fügt sich mit seinem Klinkermantel visuell gut ins Viertel ein, sein Inneres birgt eine kleine Sammlung kostbarer Ikonen. Der einen Steinwurf entfernt befindliche Aaseemarkt, ein Wohn- und Geschäftszentrum der 1970er Jahre, wurde in den letzten Jahren unter Belassung der Leihbücherei modernisiert; die drei Hochhäuser (Baujahr 1959) an der nahen Torminbrücke wirken wie Denkmäler einer zukunftsfrohen Epoche.
Am südlichen Rand der Aaseestadt liegt hinter Bäumen verborgen das Kloster Canisius, auf dessen weitläufigem Gelände mit den Jahren längst Wohngebäude entstanden sind; eine benachbarte Grundschule ist nach dem VI. Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker benannt. Bauliche Zugeständnisse an die Moderne in diesem Hort des Konservativen sind etwa Sonnenkollektoren auf den Spitzdächern, Wärmedämmungen an den Außenwänden und Carports neben den Tonnen zur Mülltrennung. Im Norden des Viertels schließlich zeigt eine regionale Versicherung mit ihrer Zentrale aus Glas, Stahl, Carbon und Licht architektonisch Flagge.
Neben den Traditionen des Handels, des Handwerks und der Landwirtschaft weiß sich die Provinzhauptstadt Münster auch der Verwaltung, der Wissenschaft und dem Klerus verpflichtet. Das alte Geld des westfälischen Adels residiert in Mauritz im Osten, die lokale Kreativbranche agiert in Lofts am gentrifizierten Hafen, das an der Promenade gelegene Kreuzviertel mit seinen Jugendstilfassaden ist eine Domäne der Praxen und Kanzleien, prekäre finanzielle und ethnische Verhältnisse finden sich in Coerde und Kinderhaus am Nordrand. Die gediegene Aaseestadt mit ihrer homogenen Sozialstruktur bei hoher Beamtendichte ist noch am ehesten repräsentativ für die ganze Westfalenmetropole. So geht Lebensqualität.