Charlotte

Charlottenburg ist kein richtiger Szenebezirk, nicht hip, nur in Maßen chic, vielmehr solide. Doch die seltenen Pflanzen wachsen gerade auf einer Wiese des Gewöhnlichen. Wer offenen Sinnes durch das Quartier zwischen Schloss und Amtsgericht streicht, trifft auf Menschen, die sich stur den Zurichtungen des Alltäglichen widersetzen. Womöglich schon ein Leben lang, wie eine Wiedergängerin der legendären Charlotte von Mahlsdorf.

Die erste Begegnung muss im Sommer gewesen sein. Ich verlasse eine Buchhandlung am Klausenerplatz und trete auf das Trottoir der schmalen Straße, von Platanen im vollen Wuchs beschattet; eine Gegend zum Spazieren und Radfahren. Ich wende mich Richtung Lietzensee, als eine hochgewachsene Frau mir entgegen kommt. Das kinnlange Haar dünn und friedhofsblond, die faltige Haut an den Unterarmen rosig, die 7/8-Hose mit den ausgestellten Beinen und der hohen Taille betont die schlanke Figur und die Fesseln einer Ballerina. An den Füßen Riemchenpumps mit halbhohem Absatz, in der Linken eine schlichte Handtasche schlenkernd.

Alte einsame Frauen wohnen durchaus im Kiez, aber keine geht so aufrecht mit gestrecktem Rücken ihrer Wege. Die dunkle Bluse mit durchbrochener Spitze vor dem Dekolleté sieht nach Flohmarkt aus, der leichte Bolero mit Ärmeln bis zum Ellbogen ist vom häufigen Waschen verblasst. Als wir einander stumm passieren, sehe ich unvermittelt, dass ihre Brust ganz flach ist, der Schädel androgen gelichtet, die Hüften knabenhaft schmal im Verhältnis zu den Schultern. Ihr herber Dunst wirkt maskulin, mit Alterssüße versetzt.

Ich widerstehe dem Impuls, ihr hinterher zu sehen. Mir leuchtet ein, dass ihre straffe Haltung sowohl eine des Stolzes als auch der Verteidigung ist. Ich bin berührt und fühle mich über eine unsichtbare Grenze geschoben, des Geschlechtes wie der Zeit. In einer coolen Bar in Kreuzkölln oder Schöneberg hätte mich eine solche Erscheinung nicht überrascht, aber hier im noch nicht gentrifizierten, klein- bis gutbürgerlichen Herzen Charlottenburgs am helllichten Tag? Noch dazu im hohen Rentenalter?

Heute ist es ja in akademischen Kreisen Konsens, der geschlechtlichen Vielfalt schriftlich Rechnung zu tragen mit dem Gender-Sternchen (etwa in „Freund*innen“), das auf ein Spektrum zwischen den Polen Mann und Frau verweist. Aber die Dame in Braun, Beige und Schwarz, als die ich sie fraglos erlebe, hatte ihre Blüte Jahrzehnte vor der Etablierung ambitionierter Programme wie Diversity Management oder Queer Proceeding; als Trans* avant la lettre hat sie Räume vermessen, in denen sich Generationen später allerlei Geschlechter bewegen.

Mir fällt spontan Charlotte von Mahlsdorf (1928 – 2002, offiziell Lothar Berfelde) ein, die als Hausfrau in Kittelschürzen und Seidenstrümpfen lebte, starke Männer liebte, freiberuflich als Konservatorin arbeitete und in der DDR privat ein Museum mit Möbeln und Haushaltsgegenständen der Gründerzeit in einem ehemaligen Gutshaus am Berliner Stadtrand betrieb. Als sie Anfang der 1990er Jahre die Autobiografie „Ich bin meine eigene Frau“ veröffentlichte, kam sie zu spätem Ruhm, an dem auch die jahrelange erzwungene Tätigkeit als IM für das MfS nichts änderte. Charlottes Leben wurde verfilmt, ihr wurde das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auf Lothar passte, so fand ich stets, die viel zitierte Formel der weiblichen Seele in einem männlichen Körper.

Ich habe keine Ahnung, wie Lottchens Cousine vom Lietzensee sich geschlechtlich identifiziert. Sicher aber wird sie ihre bitteren Erfahrungen mit einer Gesellschaft gemacht haben, die Abweichungen von der Norm der Heterosexualität bis 1969, als der § 175 StGB vom Deutschen Bundestag entschärft wurde und männliche Homosexualität unter Erwachsenen nicht länger als strafbar galt, gnadenlos kriminalisierte und bis in die Gegenwart bestenfalls als Partygag beim CSD durchgehen lässt. In diesem Sinn kommt sie mir wie eine Überlebende vor, solitär und resilient.

Und dann sehe ich sie unvermutet im Winter wieder, als mir die elfenhafte Gestalt einer Garçonne mit der schlohweißen Tonsur an der Bushaltestelle auffällt. Ich kreuze im Windschatten ihres glockigen, mit Pelz verbrämten Mantels die Straße, ein Hauch von Kölnisch Wasser zieht hinter ihr. Ich muss mich anstrengen, mit ihr Schritt zu halten; sie wird in ihrem Leben manches richtig gemacht haben, um diesen elastischen Lauf über die Jahre sich zu bewahren. Sie folgt dem Ufer des Lietzensees, das den Blick auf die hellgraue Kirche Sankt Canisius auf der anderen Seite des Sees freigibt.

Was soll dieses Stalking? Was erwarte ich, außer dass ich ihr ein Kompliment für was auch immer machen möchte? Als die nächste rote Ampel sie zum Stehenbleiben nötigt, spreche ich sie lächelnd an: „Bitte entschuldigen Sie, ich finde Sie sehr schön.“ Ihre Antwort aus einem sich verhärtenden Gesicht kommt sofort: „Was soll das, lassen Sie mich in Frieden!“ Sie wendet abrupt den Kopf ab und beschämt mich wie eine beim Rauchen ertappte Göre. Sie kann mich, eine Schwester im Geiste, doch nicht ernstlich als Bedrohung empfinden?! Doch sie steht für sich, und ich bleibe mit meiner Aufdringlichkeit allein.