Wer stets auf ideale Bedingungen wartet, wird es niemals zu etwas bringen. Im Mai läuft es sich wie von selbst, im Dezember fällt es sichtlich schwerer, die Laufschuhe zu schnüren. Dabei ist das Laufen im Wald gerade im Winter von verborgenem Reiz.
Nach einer Kanne Grünen Tees und einigen Bissen Obst zum Frühstück ziehe ich meine Laufkleidung an und schlüpfe in meine gelbgrünen Asics. Als ich auf mein Rad steige und in Richtung Wald losfahre, trifft mich der Wind im Gesicht wie ein Schnitt, die dichte Wolkendecke lässt die Sonne nur erahnen. Es dauert nicht lange, und mein Körper findet seinen Rhythmus, die kleinen Kraftwerke in den Muskeln springen an und produzieren wärmende Energie. Als ich nach zwanzig Minuten mein Rad am Waldesrand abstelle, sind Waden, Schenkel, Rumpf und Schultern gut durchblutet und trotzen den Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.
Auf den ersten fünfhundert Metern der Strecke wirke ich ein wenig eckig, mit den Schritten kommt peu à peu ein flüssiges Muster in meine Bewegungen. Mein Atem dampft vor meinen Augen, meine langen Haare wippen auf und ab im Pferdeschwanz, meine Arme sind rechtwinklig gebeugt und schwingen asynchron zu den Beinen. Ich komme rund ums Jahr in den Wald und laufe eine ausgedehnte Runde, die ich je nach Lust, Form und Zeit in der Länge und im Verlauf variieren kann.
Dabei ändert der Wald im Wandel der Jahreszeiten sein Gesicht. Im Frühling explodiert er förmlich, wenn die Blätter knospen, die Gräser duften, tausend Versionen von Grün die Bäume kleiden und die Vögel ihr Konzert zur Saisoneröffnung geben. Zum dunklen Jahresende kommt mir der Wald nackt und geschrumpft vor, die Stämme stehen weit auseinander und ragen wie dürre Rippen gen Himmel, alle Farben sind gewichen, ein schmutziges Graubeige bleibt zurück. Das Geräusch meiner Schuhe klingt laut wie ein Klatschen, weil es durch kein Blattwerk in den Zweigen gedämmt wird.
Ich passiere eine sommers beliebte Badestelle am See, meine Anatomie arbeitet verlässlich, meine Bronchien schmerzen nicht länger mehr vor Kälte. Der Wald ist eine Hohe Schule der Kinästhesie, da die Beschaffenheit des Bodens sich stetig ändert. Mal sind es geschotterte Wirtschaftswege, die an den Rändern abfallen, dann haben Gravelbikes mit ihren profilierten Reifen den Humus fast abgetragen, sodass der Sand der Mark hindurch scheint. Dann reihen sich Steigungen an Senken, ich wechsle unwillkürlich auf den Vorfuß, um mich besser abdrücken zu können.
Schließlich gelange ich auf weiche Erde, die von vertrockneten Nadeln bedeckt ist und meine Knie elastisch federn lässt. All das vollzieht sich vom Kopf ungesteuert, es ist mein Leib, der auf das unebene Terrain intelligent reagiert und den passenden Schritt findet. Dieser fein entwickelte Laufsinn lässt mich das Beugen und Strecken der Gelenke ebenso klar erleben wie die monotone Stützarbeit der Bauch- und Lendenmuskeln sowie den Sauerstoffaustausch über die Lungen.
Ich habe die Phase erreicht, wo mein Hirn von Endorphinen geflutet wird. Ich gerate in eine Stimmung des reinen Geschehenlassens, die keinen Ehrgeiz und Willen mehr kennt. Nicht nur die Stille des Vormittags ist eine andere ohne die Vögel, auch die Entfernungen im Raum und damit das Verstreichen der Zeit nehme ich im Winter anders wahr. Die Reduzierung der Sinnesreize schärft meine Aufmerksamkeit für den Körper, mit jeder Faser spüre ich den aufrechten Gang, der dem Menschen so genehm ist, anders als das geklappte Sitzen am Schreibtisch, das echsenhafte Kleben am Fels oder die horizontale Streckung im Wasser.
Eine Brache öffnet sich vor mir, die mir noch größer vorkommt als im Sommerlicht, weil die blättrige Einhegung fehlt. Und genau in diesem Moment kommt mir ein Läufer entgegen, den ich insgeheim für die Effizienz und Leichtigkeit seines Stils bewundere. Er bewegt sich mit der Eleganz einer Gazelle, sein Kniehub ist ökonomisch vorbildlich, unter den Sohlen scheint er Sprungfedern zu haben, als sei er der Wiedergänger Paavo Nurmis. Ein stummer Gruß, und schon ist er wieder weg.
Längst habe ich vergessen, dass es diesig ist und kalt, in mir glimmt ein Feuer, das mich ruhig weiterlaufen lässt. Der letzte Abschnitt der Strecke erheischt meine besondere Aufmerksamkeit; automatisch nehme ich etwas Tempo heraus, ist der Weg doch schmal und stark überwurzelt, immer wieder sammelt sich Wasser in größeren Pfützen. Das faulende Laub am Boden ist zu einer rutschigen Decke geworden, die Steine und Löcher tückisch verdeckt; ich tänzle und springe mehr, als dass ich laufe, dabei mit geöffneten Armen die Balance haltend.
Unterm Strich eine dankbare Technikübung, dürfen meine Zehen, Ballen, Sprunggelenke, Achillessehen, Kreuzbänder und Menisken auf schnell wechselnde Untergründe reagieren. Die ganze kinetische Kette ist auch am Schlusssprint über den Parkplatz am Waldrand beteiligt, die Schrittlänge weitet sich, die Bizeps holen Schwung, die Hüfte ist leicht gebeugt, der Puls schnellt hoch. Ich begrüße mein Rad mit einem Klopfen des Sattels, ziehe meine Handschuhe und Windstopperjacke wieder an und fahre gleich los, um nicht auszukühlen. Beim Tritt in die Pedale, der einer Massage der Knie gleichkommt, blinkt nur ein Gedanke: Ich laufe, weil es geht.