Klausur

  Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. – Apg 4,32

Kerstin hat die Weihnachtstage und den Jahreswechsel nicht bloß überstanden, sondern voller Innigkeit erlebt. Wie in den Jahren zuvor hatte sie im Gästehaus einer Benediktinerabtei im westlichen Münsterland Quartier bezogen, unweit der Grenze zu den Niederlanden. An diesem Ort, den heilig zu nennen sie sich nicht scheut, hat sie schon mehrfach die dunkelsten Tage im Jahreskreis begangen, das Verweilen zu dieser emotional belasteten Zeit ist ihr eine kostbare Routine geworden. Und so gern sie zum Loslassen des von Korruption und Stress geprägten beruflichen Alltags hierhin kommt, dauerhaft leben in der Klausur möchte sie nicht.

Der Benediktinerorden ist der älteste der großen katholischen Orden, es gibt ihn in einer Männer- und in einer Frauenversion. Seine Gründung geht zurück auf den heiligen Benedikt von Nursia (circa 480 bis etwa 547), der um das Jahr 529 mit einigen Mönchen das Kloster auf dem Monte Cassino gründete. In der abgeschlossenen Gemeinschaft widmeten sich die Mönche primär dem Gebet, um Gott nahe zu kommen; ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten die Mönche durch Landwirtschaft und Handel, letzteren in bescheidenem Umfang. Bevor im Mittelalter die ersten Universitäten gegründet wurden, waren die Klöster, speziell die benediktinischen, mit ihren Bibliotheken Zentren hoher Gelehrsamkeit, die das theologische, philosophische, pharmazeutische und ästhetische Wissen ihrer Zeit aufbewahrten. Für das Leben in der Kontemplation legten die Mönche und Nonnen ihre Profess ab, mit der sie Armut, Keuschheit und Gehorsam versprachen.

Bis heute liegt dem Leben in der Klausur die sogenannte Regel des heiligen Benedikt zugrunde. Dieses Brevier fasst die verbindlichen Regeln der klösterlichen Gemeinschaft zusammen, von der Kleidung, der Gebetsordnung und der Beschaffenheit der Mahlzeiten bis hin zur Arbeitsteilung und zu Strafen im Falle einer Verfehlung. Das Leben im Kloster mutet dabei kommunistisch an, kennen die Mönche doch keinerlei Privateigentum. Im Kapitel 33 der Regel heißt es: „Keiner maße sich an, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu geben oder anzunehmen. Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel – gar nichts. Den Brüdern ist es ja nicht einmal erlaubt, nach eigener Entscheidung über ihren Leib und ihren Willen zu verfügen. Alles Notwendige dürfen sie aber vom Vater des Klosters erwarten, doch ist es nicht gestattet, etwas zu haben, was der Abt nicht gegeben oder erlaubt hat.“

Diese drastische Absage an das private Eigentum, zu Papier gebracht vor annähernd 1500 Jahren, hat auch heute noch Bestand, und das keineswegs metaphorisch. So kam Kerstin eine ergreifende Geschichte aus ihrer Gastabtei zu Ohren: Dort hatte ein Mönch, der von einer schweren Erkrankung genesen war, für sich das Fotografieren als kreative und heilsame Beschäftigung entdeckt. Seine Mutter, die den Genesungsprozess ihres Sohnes unterstützen wollte, schenkte ihm eine Kamera. Dieses Gerät jedoch durfte der Mönch nicht einfach annehmen, er musste den Abt des Klosters darüber informieren und diesen um die Annahme der Gabe bitten. Der Abt erteilte seinem Mitbruder schließlich sein Plazet. Ein anderer Mönch, der während einer dienstlichen Reise mit dem Auto einen Strafzettel wegen falschen Parkens kassierte, grämte sich ob dieses Vergehens furchtbar, weil er mit der Geldbuße das Budget des Klosters belastete.

Zu einem solch einengenden Verzicht wäre Kerstin nicht bereit, so sehr sie auch die gelebte Gemeinschaft des Klosters als stützend und sorgend auffasst. Sie ist zu sehr Individuum, als dass sie ganz in einer höheren Gruppe aufzugehen bereit wäre. Und die vorgeschriebene Uniform, bei den Frauen mit einem Schleier, der die Stirn und das Haar bedeckt, wäre ihr nicht nur unpraktisch, sondern auch ein dauernder Quell des körperlichen Unwohlseins – sie trägt auch im Winter keine Mütze, so sehr will sie rund um den Kopf keinerlei Textil haben, so praktisch oder schmückend es auch sei. Sie versteht, dass die Mönche und Nonnen im Kloster sich dem Dienste Gottes verschreiben und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen. Eine Berufung in diese Richtung, mit den Konsequenzen der Entsagung materieller und ideeller Art, ist bisher nicht an sie ergangen. Sie bemüht sich durch Gebete und richtiges Verhalten um den Glauben, ohne dass dieser ihr Leben vollends bestimmte.

Im Speisesaal des Gästehauses hat Kerstin ihr Milieu gefunden. Die Gäste, über die Feiertage gut 40 an der Zahl, sind zu 80 Prozent weiblich, die meisten sind jenseits der 70, fast alle kommen aus der näheren ländlichen Umgebung. Über Weihnachten kommen sie hierher, um nicht allein daheim vor der Krippe zu sitzen, hier finden sie ihre emotionale Gemeinschaft auf Zeit. Etliche der Gesichter kennt Kerstin von früheren Besuchen, auch sie wird von mehreren Frauen als eine der ihren begrüßt. Eine Atmosphäre vollständiger Billigung liegt über den Tischen und dem üppigen Buffet, jede ist willkommen, die typische weibliche Lästerei hält sich merklich in Grenzen. Besonders wohltuend im Kontrast zum Alltag ist das Fehlen der Handys neben den Tellern; hier macht niemand Fotos vom Salat, keine greift dauernd zum Telefon, um die letzten Nachrichten auf X, TikTok und Telegram zu verfolgen und zu kommentieren. Dabei stellt das Haus seinen Gästen seit ein paar Jahren ein kostenloses WLAN zur Verfügung, die Router sind gut sichtbar auf den Fluren angebracht.

Kerstin verbringt die Zeit zwischen den Jahren kontemplativ. Sie liest den neuen Roman von Karl Ove Knausgard, macht lange Spaziergänge in der waldigen Umgebung, geht jeden Abend in die Vesper und singt Weihnachtslieder mit den anderen Gästen; die Stunden dazwischen vergehen pflanzenhaft, indem sie einfach Wurzeln in die Luft schlägt und sich vom Wind streicheln lässt. Das größte Geschenk, das ihr die Abtei macht, ist das Verschwinden all der Fragen und Zweifel, die ihren Alltag dominieren – hier wird sie ohne großes Zutun von einer Bedürfnislosigkeit erfasst, die im Zen wohl Satori genannt wird. Kerstin wünscht sich, diese Unmittelbarkeit mit zurück in die große Stadt zu nehmen, wo zu Jahresbeginn die berufliche Fron wieder ruft. Sie wird die Möglichkeiten prüfen, sich als Oblatin dem Kloster besonders zu verbinden. Aber um diese Form der Unterstützung zu schaffen, muss sie erst hier in die Nähe ziehen. Damit ist eines ihrer großen Vorhaben für die kommende Zeit benannt.