Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden. Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, bekam er Hunger. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, daß aus diesen Steinen Brot wird. – Mt 4,1-3
Die mit dem Aschermittwoch beginnende Fastenzeit wird in der katholischen Kirche als Vorbereitung auf das Osterfest, den spirituellen Höhepunkt des Kirchenjahres, betrachtet. Die heiligen vierzig Tage dienen der Prüfung, der Reinigung und der Umkehr. Dabei wird das Fasten im religiösen Sinn nicht immer wörtlich verstanden, es steht eher übertragend für einen zeitweiligen Verzicht auf Liebgewonnenes, aber Ablenkendes. Wie eine liturgische Einstimmung auf das Osterfest vollends missraten kann, erlebt Kerstin gleich am ersten Fastensonntag.
Die katholische Liturgie, egal, wo und in welcher Sprache sie zelebriert wird, lässt sich in vier Abschnitte fassen: 1. Die Eröffnung, bestehend aus dem Einzug, dem Kreuzzeichen, dem Kyrie, dem Gloria und dem Tagesgebet; 2. Der Wortgottesdienst, bestehend aus den Lesungen, dem Halleluja, dem Evangelium, der Predigt, dem Credo und den Fürbitten; 3. Die Eucharistie, bestehend aus der Gabenbereitung, dem Hochgebet, der Wandlung, dem Pater Noster, dem Agnus Dei und der Kommunion; 4. Die Entlassung, bestehend aus den Vermeldungen und dem Segen. Zentrale Figur einer dergestalt strukturierten Messfeier ist der geweihte Priester. Er versieht den Dienst am Altar und verliest sowie interpretiert das Wort Gottes. Dabei erfährt er Assistenz durch Ministranten, Diakone und Organisten.
Der Gemeinde kommt bei dieser Zeremonie umstandslos eine annehmende Rolle zu. Sie singt die intonierten Lieder mit, sie reagiert mit rituellen Antwortrufen, sie betet auf Geheiß und empfängt das Sakrament der Kommunion. Eine Beteiligung einzelner Gemeindemitglieder ist nur bei den Lesungen und der Kollekte vorgesehen, keinesfalls sollen sie das Gehörte diskutieren oder gar kritisieren. Das gilt besonders für die Predigt, die als Angelpunkt der Messfeier verstanden werden kann. Predigen, aus dem lateinischen praedicare, heißt öffentlich verkünden. Der katholische Katechismus versteht unter einer Predigt, auch Homilie genannt, die Auslegung des gerade gehörten Wort Gottes. Das Christentum ist eine Buch- wie Offenbarungsreligion: Es kennt heilige Texte, in denen sich Gott seinem Volk durch Worte mitteilt, durch Gebote, durch Allegorien, durch Gleichnisse und Gebete; es kennt weiter die Menschwerdung Gottes in Gestalt seines Sohnes, der auf dem Weg zum ewigen Leben im Himmelreich die Passion auf Erden durchmachen muss.
Zur Lesung aus dem Evangelium kommt am ersten Fastensonntag traditionell eine der intensivsten Stellen der Bibel: Jene Szene bei Matthäus, als Jesus sich zum Fasten und Beten in die Wüste zurückzieht und dort vom Teufel versucht wird. Eine dramaturgisch dichte Beschreibung des Ringens zwischen Gut und Böse, wie geschaffen für einen großen Auftritt des Priesters am Ambo. Was für Aussagen Jesu als Vorlagen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“ oder „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.“ Doch der Priester lässt diese goldene Gelegenheit ungenutzt vorbeiziehen und bringt ein Hirtenwort des Erzbischofs zur Verlesung. Wahrscheinlich muss er das, mutmaßlich ist das Usus in allen katholischen Gemeinden des zentral gesteuerten Erzbistums.
Was dann in überlangen zwanzig Minuten auf die Gläubigen niedergeht, ist von profaner Seichtheit und Anmaßung à la Katrin Göring-Eckardt. Die Gemeinde wird mit dem Leid der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer konfrontiert, sie wird an die Bomben in der Ukraine erinnert, natürlich an die Nachwehen der Corona-Pandemie, alles ausreichend abstrakt, damit es beliebig bleibe. Selbstredend geht es auch um das Klima, um erneuerbare Energien, um die Ausbeutung der Länder des Südens und generell um die Schöpfung, für die „wir alle“ Verantwortung tragen. Dass es unter Umständen einen kausalen Zusammenhang zwischen der fortschreitenden Umweltzerstörung und der globalen Überbevölkerung geben könnte, kommt dem Priester nicht über die Lippen. Wo und wie hier die vielbeschworene Umkehr, die in der Fastenzeit geschehen soll, stattfinden könnte, bleibt das Geheimnis des zitierten Bischofs. Was Fasten heute bedeuten könnte, als Askese etwa, Konzentration auf das Wesentliche, Enthaltsamkeit oder gewollter Verzicht, erfährt Kerstin nicht.
Sie kann nicht stillsitzen angesichts des Geseires am Ambo, beim verstohlenen Mustern der anderen Gläubigen in der Kirche blickt sie in gelangweilte bis entsetzte Gesichter. Der schnarrende spanische Akzent des Priesters in Kombination mit dem grellen Hallen im hohen Kirchenschiff macht das Verständnis des Vorgetragenen zusätzlich schwer. Zu keiner Zeit einigen des Bischofs Worte die Zuhörer, im Gegenteil, betreten blicken sie zu Boden, als wünschten sie sich an einen gastlicheren Ort, wo sie nicht vereinzeln. Der rhetorisch und intellektuell dürftige Monolog ignoriert die Probleme im Viertel, in dem manche Familie in Not und Sorge durch Inflation, hohe Gaspreise und Angst um die eigene Wohnung bedroht wird. Armut wird im Hirtenbrief historisiert, metaphorisiert und externalisiert. Und so sollen die heiligen vierzig Tage in der Vorbereitung auf Ostern gelingen?
Als der Sermon des Priesters endlich ein Ende gefunden hat, hält es ein älterer Herr ein paar Plätze weiter auf Kerstins Bank nicht mehr aus. Er ruft aufgebracht in die Stille, wie unpassend und politisiert die gehörten Sätze doch gewesen seien, ohne jeden Bezug zur verlesenen Stelle des Evangeliums. Wie sehr doch eine spirituelle Aufmunterung angesichts der sich abzeichnenden Passion Jesu gefehlt habe. Der verzweifelte Ruf dieses Gläubigen unmittelbar nach der hölzernen Verlesung des Hirtenbriefs des Bischofs offenbart einen tiefen Riss in der Feier. Der Priester, ein noch junger Mann von den Philippinen, demonstriert seine ganze Hilflosigkeit ob des erlebten Regelbruches, indem er einfach am Bewährten festhält und ohne weiteren Kommentar zur Gabenbereitung übergeht. Während der Kollektenkorb durch die Bänke kreist, hängt die Peinlichkeit der Situation über dem Altar. Unter diesen Umständen verweigert Kerstin ihren üblichen Obolus.
Als nach dem Vaterunser die Gemeinde rituell aufgefordert wird, einander ein Zeichen des Friedens zu geben, steppt Kerstin ein paar Schritt zur Seite und gibt dem älteren Herrn mit der mutigen Stimme die Hand, ihrer Gewohnheit, auf Distanz zu bleiben, zum Trotz. Sie hat das Gefühl, dass das Gefühl des Zusammenseins in dieser Messe Schaden genommen hat, durch die Unfähigkeit des Kirchenmannes, souverän und empathisch auf eine öffentlich artikulierte Seelenpein zu reagieren. Als endlich die Kommunion ausgeteilt wird, schreitet Kerstin nach vorn und vermeidet bewusst den Blickkontakt zum spendenden Priester. Was für ein Amateur, denkt Kerstin, während die Hostie ihr im Mund zergeht.
Es ist bereits dunkel, als Kerstin auf dem Heimweg ist. Vielleicht zeigt sich im gerade Erlebten die Sprachlosigkeit der Kirche, denkt sie. Als werde bewusst eine Kommunikation mit der Gemeinde verweigert. Herr, sagt sie sich, Du bleibst mein Glaube, meine Hoffnung und meine Liebe. Zu den Geweihten Deiner Kirche aber fehlt mir mitunter das Vertrauen. Die Kleriker werden doch nicht näher zu Gott sein nur wegen ihrer Weihe? Die Töne des letzten Lobliedes begleiten sie auf den stillen Straßen des Kiezes. Den empfangenen Leib Christi sieht sie nicht als Brechen ihres persönlichen Fastens. Kein Wunder, dass die katholische Kirche in Preußen längst den Status einer Sekte innehat.